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Archiv-Artikel

Weltenbummlers Weisheiten

Deutschlands Fußballnachwuchs schlägt China bei der U20-WM und trifft im Viertelfinale auf Brasilien

TILBURG taz ■ Der 64 Jahre alte Fußballtrainer Eckhard Krautzun hat Mannschaften in den entlegensten Winkeln der Welt trainiert. Waren es 40 oder 50 Stationen in den letzten 35 Jahren? Krautzun weiß darauf selbst keine Antwort. Die Betreuung der U20-Nationalmannschaft Chinas bei der derzeit laufenden U20-WM in den Niederlanden nennt der Weltenbummler aber „einen Höhepunkt“. Ein eigenes Kapitel in der nach dem Ende seiner Laufbahn erscheinenden Biografie verspricht der stets braun gebrannte Fahrensmann gar diesem Thema.

Am Dienstagabend in Tilburg sind die Chinesen im Achtelfinale gegen Deutschland nach einem 2:3 aus dem Turnier geflogen. „In einem hervorragenden Spiel voll Dramatik und Klasse“, wie Krautzun analysierte, dem als Einzigen die schwülen Temperaturen nichts auszumachen schienen.

Ohne eine einzige Schweißperle auf der Stirn meisterte der gebürtige Essener die kritischen Fragen der Reporter, die ihn nach der Niederlage zu seiner Zukunft als Leiter des „Team 08“ fragten, das den Chinesen bei Olympia 2008 im eigenen Land die Goldmedaille bringen soll. „Wir haben die Vorgabe des Sportministeriums durch das Einziehen ins Achtelfinale mit Glanz und Glorie erfüllt“, konterte Krautzun gelassen und hob hervor, dass China sich mit seinem Auftritt in Holland „viele Freunde in der Heimat und der Welt gemacht hat“. Schließlich habe man alle drei Vorrundenspiele gewonnen. Und da Krautzun sehr genau weiß, dass nicht jeder im kommunistischen Riesenreich in Ostasien sein Freund ist, vergaß er nicht zu betonen: „Wenn ich sehe, wie wir in den letzten Monaten Fußballspielen gelernt haben, dann bin ich stolz auf meine Leistung.“

Bei der Analyse wird Krautzun nicht entgangen sein, dass vor allem die landesuntypische Freizügigkeit in der Abwehrarbeit der DFB-Auswahl von Trainer Michael Skibbe das Weiterkommen ermöglicht hat. Der DFB unterstützt nämlich die so genannte Deutsch-Chinesische-Fußball-Akademie im fränkischen Kurort Bad Kissingen, wo Krautzun den chinesischen Nachwuchs ausbildet. Höfliche Gäste waren die Chinesen, die zweimal durch Chen in Führung gegangen waren (4. und 20.), aber zweimal postwendend den Ausgleich durch Christian Gentner (5.) vom VfB Stuttgart und Nicky Adler (30.) von 1860 München zuließen.

Zum Weinen brachte die Spieler in den roten Trikots vor 7.000 Zuschauern der späte K.o. durch einen Kopfball des Kölner Marvin Matip in der 89. Minute. Ruhig blieb da nur Krautzun, der mit der geballten Weisheit eines Fußballerlebens anmerkte: „Das ist Fußball.“ Diesen Eindruck hatte zum ersten Mal bei diesem Turnier auch Michael Skibbe vom Spiel seiner Mannschaft. „Wir haben gezeigt, dass wir auch fußballerisch mithalten können.“ Skibbe gab zu, dass die Leistungen seiner Auserwählten in der Vorrunde über weite Strecken doch „ganz, ganz schwach“ waren. Nur als einer der vier besten Gruppendritten rumpelte man sich ins Achtelfinale.

Man muss kein Experte sein, um dem Jahrgang 1985 keinen herausragenden zu nennen. Mit Lukas Podolski hat das größte Talent bereits den Sprung in die A-Nationalelf geschafft, und so sucht man vergeblich nach außergewöhnlichen Befähigungen. Einzig der Mönchengladbacher Marcell Jansen deutete auf der linken Seite wieder Potenzial für höhere Aufgaben an. Am Freitagabend geht es in Tilburg nun gegen den „Top-Favoriten“ (Skibbe) und Titelverteidiger Brasilien. Taktisch beabsichtigt Skibbe mit Konterfußball und Diagonalbällen gegen den bislang gegentorlosen Favoriten zu reüssieren.

Skibbe hat nicht Unrecht, den Viertelfinaleinzug mangels individueller Klasse seiner Spieler als „großen Erfolg“ zu verkaufen. Mehr als eine Fußnote ist der Einzug ins WM-Viertelfinale der U20 zudem. Zum ersten Mal nach 18 Jahren gelang dies wieder. Ein Satz des Siegtorschützen klang am Dienstag angesichts der vorwiegend mauen Leistungen zwar verwegen, kündet aber von einem neuen Selbstbewusstsein in der Auswahl des Weltmeisters von 1982. Marvin Matip sagt: „Jetzt wollen wir Geschichte schreiben.“ TOBIAS SCHÄCHTER