berliner szenen: Warum fragen Sie nach Dylan?
Am Morgen breche ich zu früh und etwas neben der Spur auf. Ich komme schon wieder nicht in meine Mails und das löst einen Selbsthass und ein Gefühl der Ohnmacht aus, dass ich noch eine späte Ritzerin werden könnte. Auf dem Weg bei blauem Himmel fällt mir dann Stück für Stück ein, was ich alles vergessen habe, zum Beispiel aufs Klo zu gehen.
Am Ostbahnhof gibt es keinen Grund zur Eile, recht entspannt schlendere ich den Gang zu meinem Gleis entlang. Doch an der Anzeigetafel steht dick in Rot, dass der ICE 795 nach Frankfurt heute ausfällt. Oh. Fast als beträfe es mich nicht, zockel ich mit meinem Rollköfferchen zum Reisezentrum. Dort hat sich schon eine größere Traube Menschen eingefunden, die Atmosphäre ist aber ruhig und gefasst, niemand verliert die Nerven oder wird unangenehm. Neuankömmlingen gibt man einen Hinweis, wo sie ihre Wartenummer ziehen müssen, und eine Frau lobt meinen Rock. Weil ihr nicht so gut ist, setzt sie sich ein paar Meter weiter an den Tisch eines Imbisses, ihr Mann hält die Stellung.
Beim Starren auf den Bildschirm mit den Nummern geht mir durch den Kopf, dass ich vielleicht im falschen Jahrhundert gelandet oder zu viel alleine bin. Im selben Moment und praktisch ohne eigenes Zutun drehe ich mich zu dem Mann der sitzenden Frau und frage ihn, ob sie zufällig bei Bob Dylan gewesen wären. „Auf allen drei Konzerten und morgen muss ich zum Konzert in Krefeld sein.“ – „Wie war’s?“ – „Gut, eigentlich perfekt und ganz anders als sonst.“ Zuvor war er schon auf dem Konzert in Magdeburg, doch da stimmte die Akustik nicht. „Aber wie kommen Sie denn darauf, mich nach Bob Dylan zu fragen?“ Weil Sie die einzigen hier sind, die sympathisch aussehen? Hätte ich sagen können, habe ich aber nicht.
Wir sind dran. „Noch viel Glück!“ „Ihnen auch!“
Katrin Schings
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