piwik no script img

Die lustlosen Sizilianer

Giovanni Verga erzählt liebevoll gnadenlos vom Abstieg einer Fischerfamilie: „Die Malavoglia“

Giovanni Verga: „Die Malavoglia.“ Aus dem Italienischen neu übersetzt von Anna Leube. Wagenbach, Berlin 2022. 320 Seiten. 25 Euro.

Von Tim Caspar Boehme

Sprechende Namen können etwas Albernes haben. Sie können sich aber auch als Wendung mit unmittelbarem Wiedererkennungswert einprägen. Der Roman „Die Malavoglia“ des sizilianischen Schriftstellers Giovanni Verga, 1881 erschienen, trägt so einen Namen gleich im Titel. „Mala“ heißt „schlecht“, „übel“, „voglia“ kann „Lust“ oder „Laune“ bedeuten. Mala­voglia sind, als Personen verstanden, mithin Lustlose. Und sie sind die geprügelten Helden dieser Erzählung: eine sizilianische Fischerfamilie, die ihre besten Tage zu Beginn des Buchs bald hinter sich gehabt haben wird.

Verga gilt als Hauptvertreter des italienischen Verismus, einer literarischen Strömung ähnlich dem Naturalismus in anderen Ländern, wobei Vergas realistischer Blick klar zum Pessimismus neigt. Im Roman bildet er die sozialen Verhältnisse genau ab, der Alltag der „einfachen“ Leute im Fischerdorf Aci Trezza, dem Ort der Handlung, beherrscht das Geschehen, Dialekt spielt eine wichtige Rolle. Letzteres dürfte für Verga entscheidend gewesen sein, sprach und schrieb er doch Sizilianisch, und Italien als Republik war ein noch junges Gebilde, das sprachlich alles andere als geeint dastand.

Die Besonderheiten von Vergas Sprache sind im Deutschen nicht reproduzierbar. Dafür liegt mit Anna Leubes Neuübersetzung jetzt eine mit Anmerkungen versehene Fassung vor, die vergessen macht, dass es sich um ein gut 140 Jahre altes Buch handelt. Vom 19. Jahrhundert ist bei diesem Verga wenig zu merken. Ausschweifendes oder Ausschmückendes ist seine Sache nicht. Er bringt die Dinge nüchtern und allenfalls mit leicht ironischem Abstand auf den Punkt.

Verga schreibt aus einer neutralen Erzählperspektive, er beobachtet, weiß nicht unbedingt mehr als seine Figuren, kennt jedoch selbstverständlich den Ausgang der Geschichte, der stets neue Schläge für die Malavoglia bereithält. In dieser provinziellen Welt ist das Ansehen genauso wichtig wie die Frage, wer wem wie viel schuldet. Zu Beginn will die Familie Malavoglia um ihren Patriarchen Padron ’Ntoni ausnahmsweise einmal ein Geschäft mit Lupinen machen, er nimmt einen Kredit auf, schickt seinen Sohn Bastianazzo mit der Ladung auf See. Allein das Wetter will nicht so recht, ihr Schiff, die „Provvidenza“ (Vorsehung!), gerät in Sturm, Ladung und Mannschaft gehen verloren, bloß das Wrack kann geborgen werden.

Das Wetter will nicht so recht, ihr Schiff, die „Provvidenza“ (Vorsehung!), gerät in Sturm

Verga baut das Geschehen kaum merklich auf, lässt die Katastrophe, über mehrere Kapitel gestreckt, allmählich auf die Familie niedergehen. Dazwischen fühlt man sich fast wie in einer Soap Opera, in der der Dorfklatsch dominiert, mit einzelnen Hinweisen auf das Unglück am Rand. Nach dem Fund des Boots kreist die Handlung scheinbar unaufhörlich um die Frage, wie die Malavoglia ihren Kredit wieder abbezahlen können und welche Tochter sich mit welchem ökonomischen Gewinn an wen verheiraten lässt. Die ökonomische Sicht ist die kaum getarnte Hintergrundfolie für den nachbarschaftlichen Tratsch, in dem Missgunst einen nicht geringen Anteil hat. Da viele Namen im Buch auftauchen und einzelne Pro­tagonisten zudem noch mit ihren Spitznamen genannt werden, kommt der Überblick schon mal abhanden. Im Apparat findet sich dankenswerterweise ein Personenregister, 43 verschiedene Figuren gilt es auseinanderzuhalten.

Bei aller Distanz sind Vergas Sympathien für die vom Pech verfolgte Familie erkennbar. Sie werden am Ende mehr als die Ladung und den Sohn unter den Verlusten zu verbuchen haben. Man folgt ihnen dabei in ihrer Unfähigkeit, sich gegen die Ausnutzung zu wehren.

Verga deutet in diesem Kosmos mit beschränktem Horizont weitere Missstände wie Vetternwirtschaft und Korruption an, sie vervollständigen das Bild einer Welt, in der einiges im Argen liegt. Trotz der Neigung zur Schwarzseherei bietet er seinem unglücklichen Clan am Ende ein klein wenig Hoffnung. Die Verhältnisse, sie müssen schließlich nicht bleiben, wie sie sind.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen