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Archiv-Artikel

Der Nazi und die Verfassung

Vor 63 Jahren, im Mai 1949, trat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Einer seiner „Väter“ war der bis heute hoch angesehene und hoch dekorierte CDU-Politiker Paul Binder. Seine Rolle in der Nazizeit wurde verschwiegen. Der Bankmanager aus Stuttgart war einer der wichtigsten Organisatoren der „Arisierung“. Er profitierte vom Raub „jüdischen“ und osteuropäischen Eigentums

von Hermann G. Abmayr

Seine ersten Aktien kauft Paul Binder mit dem Geld, das ihm Paul Scheerer geschenkt hatte. Scheerer, der reiche Onkel aus Amerika, hatte mit dem Verkauf von Ölfeldern ein Millionengeschäft gemacht.

Von 1930 an, dem ersten Jahr der Weltwirtschaftskrise, arbeitet Binder in Berlin. Dann kommt der große Schock: Über die Privatbank des Vaters Paul Martin Binder wird wegen Überschuldung das Vergleichsverfahren eröffnet. Auch Großkunden wie der Verband Württembergischer Metallindustrieller, die Schokoladenfabrik Stängel & Ziller („Eszet“) und Bosch können nicht mehr helfen. Binders Eltern verlieren ihr Firmenvermögen und das gesamte Privatvermögen einschließlich ihrer Wohnung samt Mobiliar.

So etwas will Binder junior nie erleben. In Berlin baut er nun systematisch seine eigene Karriere auf. Der Schwabe macht sich in der Bankenszene einen so guten Namen, dass ihn die Dresdner Bank – die Hausbank der NSDAP und der SS – im Frühjahr 1937 als Leiter für die neu geschaffene Zentralstelle für Arisierung anwirbt. Binder soll das lukrative Geschäft vor der Konkurrenz sichern. Aus der schleichenden Arisierung der vergangenen Jahre wird jetzt eine offene. Und schon bald entwickelt sich ein regelrechter „Arisierungswettlauf“ unter den Großbanken, die ihre anfängliche Zurückhaltung (aus Rücksicht auf ihre Auslandsgeschäfte) aufgeben.

Experte für „Entjudung“ der Dresdner Bank

Binders System beginnt mit einem schwerwiegenden Vertrauensbruch. Er lässt die Vermögenswerte der „jüdischen“ Firmen untersuchen, die bei der Dresdner Bank Konten haben. Diese Daten werden ohne Kenntnis der Kontoinhaber an „arische“ Kaufinteressenten – häufig die Konkurrenzbetriebe – weitergegeben. Die Bank vermittelt dann den Verkauf und besorgt dem Käufer die nötigen Kredite.

Im Mai 1938 informiert das Reichswirtschaftsministerium Paul Binder vertraulich darüber, dass bald sämtliche nicht „arischen“ Geschäfte liquidiert werden sollen und dass für Juli ein neuer Erlass zur Handhabung der „Arisierung“ vorbereitet wird. Als Kaufpreis seien drei Viertel bis zwei Drittel des ursprünglichen Wertes anzusetzen. Grund: Abschläge für etwaige Risiken, Abfindungen der jüdischen Angestellten, die gekündigt werden müssen, oder sonstige Minderungen. Bei Immobilien solle lediglich der niedrige Einheitswert bezahlt werden.

Binder darf die vertraulichen Informationen, die er erhalten hat, nicht schriftlich verbreiten, da sonst der Eindruck entstehen könnte, die Dresdner Bank werde gegenüber den anderen Instituten bevorzugt. So besucht der Experte für die „Entjudung“ persönlich die Filialen der Bank, die über „jüdisches Potenzial“ verfügen.

Die Dresdner Bank als großer Profiteur des Dritten Reichs

Bei seiner Reise durchs Reich weist er die Niederlassungsleiter an, sich mit den jeweiligen Wirtschaftsberatern der NSDAP in Verbindung zu setzen, ohne die diese Geschäfte nicht möglich sind. Denn die Wirtschaftsberater der Partei müssen die fachliche und politische Eignung der Kaufinteressenten, deren Finanzierung und die geplante Kündigung von jüdischem Personal untersuchen und dem neuen Eigentümer attestieren, dass ein Unternehmen „judenfrei“ ist.

Trotz der engen Zusammenarbeit mit den Nazis wird Paul Binder der NSDAP nie beitreten. Er hatte sich mit seinem Wechsel zur Dresdner Bank lediglich der Deutschen Arbeitsfront angeschlossen und wird 1940 Mitglied des NS-Bundes Deutscher Technik (NSBDT), eines Zusammenschlusses aller technisch-wissenschaftlichen Vereine und Verbände. Im Vergleich zur Deutschen Bank erhalten die Filialchefs der Dresdner für ihre schmutzigen Geschäfte einen größeren Spielraum. Während die einen höhere „Arisierungskredite“ nur Käufern mit guter Bonität gewährt, dürfen die Dresdner auch Kredite an Kunden mit zweitklassiger Bonität vergeben.

Die Bank spekuliert damit, dass das Geschäft über die zu erwartenden hohen Arisierungsgewinne abgesichert ist. So werden die Dresdner Bank und Paul Binder zu wichtigen Dienstleistern und großen Profiteuren des „Dritten Reiches“.

Pläne für die deutsche Wirtschaft nach der Niederlage

Nachdem die „Arisierung“ ihren Höhepunkt überschritten hat, macht sich Binder Anfang 1941 mit einem eigenen Wirtschaftsprüfungsunternehmen selbstständig. An seiner Arbeit ändert sich zunächst nicht viel, denn jetzt kümmert er sich um die im Krieg eroberten Gebiete der Deutschen, vor allem im Osten, wo er die Überführung der Industrie in die deutsche Wirtschaft begleitet. Er arbeitet mit SS-eigenen Firmen zusammen. So erstellt er Gutachten, um die osteuropäische Industrie besser vermarkten zu können.

Der zweite Geschäftszweig Binders ist die expandierende und äußerst profitable Rüstungsindustrie. Binders Leute arbeiten vorwiegend mit Gesellschaften von Hermann Görings Luftfahrt-Ministerium zusammen. Sie mischen aber auch bei den Schlüsselfirmen der U-Boot-Herstellung mit. Der Schwabe und seine Mitarbeiter besitzen Ausweise, die sie zum Betreten aller Werke der Luftfahrtindustrie berechtigen. Binder unterhält mittlerweile Stützpunkte in Warschau, Krakau und Amsterdam sowie in Ebingen auf der Schwäbischen Alb. In die Heimatstadt des Vaters hatte sich die Familie nach der Pleite ihrer Bank zurückgezogen.

Spätestens seit April 1944 korrespondiert er mit Ludwig Erhard und diskutiert mit ihm über die Gestaltung der Wirtschaft in der Zeit nach dem Krieg, über Währungs- und Finanzpolitik. Erhard leitet damals das Institut für Industrieforschung, das von der Reichsgruppe Industrie finanziert wird. 1944 verfasst er in dessen Auftrag eine Denkschrift über Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung, in der er mit einer Niederlage Deutschlands rechnet.

Binder wird CDU-Mitglied und Stellvertreter von Carlo Schmid

Je länger der Krieg andauert, desto häufiger hält sich Binder in Ebingen auf. Als die Rote Armee auf Berlin vorrückt, packt er seine heiklen Dokumente, flieht endgültig nach Württemberg und lässt sich in Tübingen nieder, das wie Ebingen zur französischen Besatzungszone gehört. Dort fühlt er sich vor der Financial Investigation Section der Amerikaner sicher.

Schon im Oktober 1945 beginnt Paul Binder seine neue Karriere. Die Franzosen ernennen den Mann zum Landesdirektor ihrer Besatzungszone, die von Tübingen aus verwaltet wird. Anfang 1946 tritt Binder der neu gegründeten CDU bei. Im Herbst desselben Jahres wird er Vizepräsident des „Staatssekretariats für das französisch besetzte Gebiet Württembergs und Hohenzollerns“, wie die provisorische Regierung genannt wird. Er ist damit Stellvertreter von Carlo Schmid (SPD). Sein Fachgebiet: Haushalts- und Finanzfragen.

Anfang Januar 1947 bittet Kurt Georg Kiesinger Paul Binder um Unterstützung: „Ich warte, mit Aussicht auf Entlastung, auf die Klärung meines politischen Status“, schreibt er. Er könne sich dann eine Arbeit in der Lehre oder der politischen Bildung vorstellen. Binder lehnt ab. Grund: Kiesinger war Mitglied der NSDAP. Mehrfach kritisiert Binder 1946 und 1947 die französische Besatzungsmacht, vor allem die Beschlagnahmung ziviler Güter. Binder wirft den Franzosen vor, sie würden die deutsche Bevölkerung aushungern, während es den Menschen in Frankreich vergleichsweise gut ginge.

Der Mann, der in zwölf Jahren NS-Diktatur nie protestiert und Widerstand auch noch 1944 abgelehnt hatte, erklärt den Besatzern jetzt, dass der Aufbau einer Demokratie mit einer Militärregierung nicht vereinbar sei. Zudem lehnt Binder ein „moralisches Schuldbekenntnis“ der Deutschen ab. Gegenüber der französischen Zeitschrift Esprit Abbé erklärte er: „Man leugnet bei uns nicht die Mithaft für die Schäden, die die nationalsozialistische Politik den anderen Völkern zugefügt hat, und ist durchaus bereit, im Rahmen des wirtschaftlichen Möglichen zur Wiedergutmachung beizutragen. Dabei handelt es sich aber um ein schuldrechtliches Anerkenntnis und nicht um ein moralisches Schuldbekenntnis.“

Binder wendet sich auch gegen eine Bestrafung von „gutgläubigen“ NS-Aktivisten. Zitat: „Wer das verbrecherische Regime gutgläubig unterstützt hat, ohne selbst straffällig zu werden, darf nicht bestraft werden: also auch der gutgläubige Aktivist nicht.“ Um die Gefahr des Nazismus zu beseitigen, müsse man „die jetzigen Nazielemente ausrotten“.

Im Mai 1947 entlässt die französische Militärverwaltung Paul Binder. Kurz danach wird er in den ersten Landtag von Württemberg-Hohenzollern gewählt. Der schickt ihn 1948 in den Parlamentarischen Rat zur Ausarbeitung des Grundgesetzes. Wieder kümmert er sich vor allem um Finanzfragen. Er würde gerne eine größere Rolle spielen, wird aber ausgebremst.

Nach der Verabschiedung des Grundgesetzes widmet sich Binder verstärkt seiner beruflichen Karriere als Wirtschaftsprüfer. Er gründet die Sozietät Dr. Paul Binder, Dr. Erich Streit und Erich Dachs, die schließlich als Büro für Wirtschaftsprüfung und Steuerberatung unter dem Namen Dr. Binder, Dr. Dr. Hillbrecht und Partner firmiert.

Doch die Parteiarbeit will Binder nicht lassen. Von 1952 bis 1957 leitet er die Stuttgarter CDU, bis 1960 arbeitet er als Landtagsabgeordneter. Dann betätigt er sich in der Partei vor allem als Lobbyist der Wirtschaft. 1963 ist er an der Gründung des CDU-Wirtschaftsrats beteiligt und bleibt 15 Jahre lang dessen Vorstandsmitglied. Er wird Mitglied des CDU-Bundesausschusses für Wirtschaftspolitik und leitet den Unterausschuss Finanzen und Steuern. Als Verfechter indirekter Steuern wirkt er an der Gesetzesinitiative zur Einführung der Mehrwertsteuer mit.

Bis zum Ende kein Wort über Binders Taten in der NS-Zeit

Immer wieder wird Binder in Aufsichtsräte berufen, so in den der Süddeutschen Bank, die nach der vorübergehenden Zerschlagung durch die Alliierten aus der Deutschen Bank hervorging. Er sitzt in den Aufsichtsräten der Württembergischen Bank, der Maschinenfabrik Heller in Nürtingen und der Behr-Thomson Dehnstoffregler GmbH in Kornwestheim. 1964 ernennt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Paul Binder zu einem der Wirtschaftweisen.

Die wirtschaftsliberalen Ideen seiner früheren Tübinger Studentenverbindung Stuttgardia hatte Binder nie vergessen. Er predigt „die Förderung von Privateigentum, die Stärkung des Leistungsprinzips und der freien Unternehmerinitiative“. In einem Spiegel-Interview vom Januar 1966 bringt er seine Leitgedanken auf den Punkt: Abschaffung des Weihnachts- und Urlaubsgelds, der Zuschüsse zu den Sozialversicherungen sowie Streichung der dynamischen Rente und der Bausparzuschüsse. Außerdem sollten die indirekten Steuern wie die Kraftfahrzeug- und die Mineralölsteuer angehoben und eine Autobahngebühr eingeführt werden.

Paul Binder stirbt am 25. März 1981 in Stuttgart, ohne dass er sich jemals für seine Taten in der Zeit des „Dritten Reiches“ hatte rechtfertigen müssen. 1962 hatte er das Große Bundesverdienstkreuz am Stern bekommen. Auf Antrag der Evangelisch-theologischen Fakultät hatte ihm die Universität Tübingen drei Jahre später die Würde eines Ehrensenators verliehen. Der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Karl Filbinger hatte sich 1972 dafür eingesetzt, dass Binder einen Professorentitel erhält. Und noch 2009 lobte ihn der damalige Präsident des Baden-Württembergischen Landtags, Peter Straub. Auch damals: kein Wort zu Binders Taten in der NS-Zeit.

Der Text dieses Artikels basiert auf einem Kapitel des von Hermann G. Abmayr herausgegebenen Buches „Stuttgarter NS-Täter“. Weitere Informationen unter www.Stuttgarter-NS-Taeter.de .