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Archiv-Artikel

WIR LASSEN LESENIntakt unter Zombies

Gottfried von Cramm, der Tennisbaron, als schwuler, antifaschistischer Frühexistenzialist

Erkundigt man sich bei der Nachkriegsgeneration, dann ist Gottfried von Cramm hierzulande vor allem wegen seiner unzeitgemäß langen weißen Hosen in Erinnerung geblieben. Von der Mode seiner Jugend mochte der „Tennis-Baron“ auch bei seinem Nachkriegscomeback, etwa im bundesdeutschen Davis-Cup-Team, das er 1951 praktisch im Alleingang in die Endausscheidung der europäischen Zone brachte, nicht lassen. Erst zwei Jahre später, 1953, nahm der inzwischen 43-Jährige endgültig Abschied vom Daviscup, spielte aber noch bis 1957 Turniere.

Ganz andere Aspekte dieser bedeutenden Persönlichkeit rückt der amerikanische Journalist Marshall Jon Fisher in den Mittelpunkt seiner Darstellung („Ich spiele um mein Leben – Gottfried von Cramm und das beste Tennismatch aller Zeiten“) anlässlich Cramms hundertstem Geburtstag am 7. Juli dieses Jahres: Der Mann, der dreimal im Finale von Wimbledon stand (und dreimal verlor) erscheint hier nicht nur als Vertreter eines aristokratischen und unbedingt eleganten Fair-Play-Tennis, sondern als schwuler, antifaschistischer Frühexistenzialist.

„Gottfried war wirklich erstaunlich“, erinnert sich sein Freund Wolfgang Hofer, „an ihm schien der Krieg absolut spurlos vorübergegangen zu sein. Niemals erwähnte er die Schrecken des russischen Winters. Auch über die Zeit im Gefängnis sprach er nicht.“ Als nach dem missglückten Attentat vom 20. Juli 1944, im Umkreis dessen Urheber Cramm sich bewegte, eine Terrorwelle der Gestapo das Land überzog, meinte Cramm zu seiner Freundin Missie Wassiltschkow: „Ich will nicht wissen, was mit ihnen geschieht. Ich will lediglich wissen, wer von ihnen überleben und wieder freikommen wird, wer noch frei ist und wann sie es das nächste Mal versuchen wollen. Denn dann können sie auf mich zählen!“

Cramm, der es sich und anderen verbat, bei Fehlentscheidungen der Schiedsrichter auch nur das leiseste Anzeichen von Widerspruch zu zeigen, hatte die durch eine aristokratische Erziehung wohl unterfütterte, aber durch sie allein nicht zu erklärende Fähigkeit entwickelt, zu widerstehen, in dem Sinne, der den meisten seiner Landsleute abging: Er ließ sich einfach nicht verbiegen, nicht zum Parteieintritt bewegen. Er lebte, wie er Tennis spielte, mit geradem Rückgrat. Und insofern ist die Erinnerung an Cramms weiße Leinenhosen vielleicht doch mehr als der verwunderte Blick von Halbwüchsigen auf einen Mann aus einer anderen Zeit. Der Cramm nach 1945 war ein intakter Mensch unter Nazi-Zombies, eine Ikone und ein Vorbild.

Hierin liegt die Rechtfertigung für Fishers sich manchmal in Details verlierende Herangehensweise. Ja, es ist sogar so, dass man gern noch mehr über Cramm allein erfahren würde – und dazu auf Egon Steinkamps vergriffene Biografie aus dem Jahr 1990 zurückgreifen müsste („Gottfried von Cramm – der Tennisbaron“), die Fisher, gerade was die Kriegs- und Nachkriegsjahre betrifft, ausführlich zitiert. Der US-amerikanische Autor hat sein Buch jedoch „three extraordinary men“ gewidmet – wie es im amerikanischen Originaltitel heißt: Cramm (der auf sein „von“ keinen gesteigerten Wert legte) sowie den US-Tennislegenden Donald Budge und Bill Tilden, Cramms ebenfalls schwulem Mentor. Im Mittelpunkt steht eben jenes Davis-Cup-Halbfinale zwischen Cramm und Budge 1937 in Wimbledon, dem Fisher für Cramm existenziell gefährdende und epochale Bedeutung unterstellt – und damit ziemlich daneben liegt.

Natürlich hätten es Führer & Co gerne gesehen, wenn Cramm Budge besiegt und Nazideutschland damit ins Finale gegen England gezogen wäre, das damals als leicht zu bezwingender Gegner galt. Das heißt aber nicht, dass der Baron „um sein Leben spielte“, sonst hätten die Nazigrößen ihn wohl kaum wenige Wochen nach der Fünfsatzniederlage auf Welttournee gehen lassen. Es geschah hier, in der freien Atmosphäre dieser Reise, dass Cramm nicht mehr den Deckel auf seinen Überzeugungen halten wollte und wohl zum Opfer der allgegenwärtigen Denunzianten wurde. Im Jahr 1938 nach Deutschland zurückgekehrt, verhaftete ihn die Gestapo, in Berlin wurde er zu einer einjährigen Gefängnisstrafe nach Paragraf 175 verurteilt. Und ob das Fünf-Satz-Match 1937 in Wimbledon nun vom Sportlichen her tatsächlich bedeutender war als etwa der legendäre Sechsstundenfight zwischen Boris Becker und John McEnroe 1987 in Hartford?

Dennoch: Fisher hat ein gutes, ein aufschlussreiches Buch geschrieben. Und Cramm hat einen Ehrenplatz in der deutschen Geschichte verdient – jenseits des Sports. AMBROS WAIBEL

■ Marshall Jon Fisher: „Ich spiele um mein Leben – Gottfried von Cramm und das beste Tennismatch aller Zeiten“. Osburg 2009, 352 S., 22,90 €