Wem gehört das Wissen?

DIGITALISIERUNG Google will Millionen Bücher online vermarkten. Deutsche Autoren und Verlage wehren sich

Rund 10 Millionen Bücher hat Google eingescannt, ohne Autoren und Verlage um Erlaubnis zu fragen

VON CHRISTIAN RATH

Eigentlich ist die Idee entzückend: Wer kurz etwas in einem Buch nachschlagen will, kann dies schnell im Internet erledigen, ohne sich das Buch kaufen oder aus einer Bibliothek besorgen zu müssen. Längst vergriffene Bücher muss man sich nicht erst per Fernleihe aus entlegenen Bibliothek beschaffen, sondern findet sie bequem im Internet. Und das Beste: Die digitalisierten Bücher lassen sich per Volltextsuche durchkämmen. Verschiedene Unternehmen und gemeinnützige Organisationen arbeiten an dieser Idee. Aber niemand ist so weit wie Google und sein Dienst Google-Books.

Das Unternehmen, das längst vom Anbieter einer Suchmaschine zu einem in vielen Bereichen des Internets tätigen Konzern avanciert ist, hat in den vergangenen fünf Jahren in Zusammenarbeit mit zumeist amerikanischen Bibliotheken bereits etwa 10 Millionen Bücher eingescannt; darunter mindestens 100.000 deutschsprachige. Vollständig online verfügbar sind bislang nur Bücher, bei denen kein Urheberrecht mehr existiert oder sich der Konzern mit den Verlagen auf eine Veröffentlichung geeinigt hat.

Das Problem: Google hat niemanden um Erlaubnis gefragt, die Autoren nicht und auch die Verlag nicht. Deshalb wird jetzt vor Gericht gestritten – ein Prozess, der über den Zugang zum Wissen der Welt entscheidet.

Dabei fing Google ganz harmlos an und berief sich auf den fair use, den „angemessenen Gebrauch“, der nach amerikanischem Recht zulässig ist. Man habe nur den Bibliotheken geholfen, ihre Bestände zu digitalisieren, um Studenten und Wissenschaftlern die Arbeit zu erleichtern. Im Gegenzug wollte Google zunächst lediglich kleine Ausschnitte, snippets, in der Suchmaschine anzeigen. Allerdings hielten amerikanische Autoren und Verleger schon das für unzulässig und strengten eine class-action an, eine nach US-Recht zulässige Sammelklage im Namen aller Verlage und Autoren weltweit. Ein komplizierter und teurer Prozess.

Deshalb haben sich Google und die Kläger auf einen Vergleich verständigt: das sogenannte Google Book Settlement. Diesem Vorschlag zufolge würde Google für jedes bisher eingescannte Buch 60 Dollar (41 Euro) Entschädigung zahlen. Insgesamt stellt Google 125 Millionen Dollar für Entschädigungen, Prozesskosten und die Abwicklung des Vergleichs in Aussicht.

Doch das Settlement schaut vor allem nach vorn. Künftig will Google gemeinsam mit Verlegern und Autoren aus den USA große Einnahmen aus der Vermarktung von Büchern im Internet erzielen. So könne der Kunde sich in Zukunft einzelne Bücher über Google gegen Bezahlung herunterladen oder ein Abonnement für ganze Bibliotheken erwerben. 63 Prozent der Erlöse, so lautet der Vorschlag, würde an Verlage und Autoren gehen, der Rest bliebe bei Google. Google würde dabei Abschied nehmen von seinem bisherigen Gratis-Image. Bei lieferbaren Büchern müssten Verlage und/oder Autoren der Google-Vermarktung jeweils zustimmen, bei vergriffenen Werken könnten sie der Nutzung durch Google nur widersprechen. Vor allem der zuletzt genannte Punkt ist umstritten, weil hier die Interessen von Autoren, die sich nicht kümmern oder nicht mehr kümmern können, einfach übergangen werden. An solchen „verwaisten“ Büchern würde Google allein verdienen.

Wer bei diesem Vergleich nicht mitmachen will, hat noch bis zu diesem Dienstag Zeit, sich zu Wort zu melden. Dann läuft eine bereits mehrfach verlängerte Frist ab. Wer sie nicht nutzt, verzichtet auf 60 Dollar pro Buch und müsste selbständig in den USA gegen Google klagen, wovon deutsche Verleger- und Autorenverbände abraten.

Noch ist aber auch nicht sicher, ob der Vergleich überhaupt zustande kommt. Das zuständige US-Bundesgericht in New York muss nämlich noch prüfen, ob der Vergleich „fair, angemessen und vernünftig“ ist. Hierzu wird es am 7. Oktober eine Verhandlung abhalten. Viele mächtige Google-Konkurrenten haben schon Widerspruch erhoben. So fürchtet der Onlinehändler Amazon um sein aufkommendes Geschäft mit elektronischen Büchern. Widersprochen haben auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Bundesregierung. Sie bemängeln, der Vergleich verstoße gegen internationale Verträge zum Urheberrecht. Danach müsse vor einer Nutzung die Zustimmung des Urhebers eingeholt werden. Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) will erreichen, dass Werke deutscher Autoren aus dem Vergleich ausgeklammert bleiben. Auch für solche Einwände endet am Dienstag die Frist.

Sollte der Vergleich dennoch weltweit wirksam werden, müssen die deutschen Autoren – die neben französischen bislang den größten Unmut geäußert haben – ihr weiteres Vorgehen überlegen. Derzeit werden zwei Strategien gehandelt. Der Buchhandel schlägt eine harte Linie vor: Alle Autoren und Verlage sollen gemeinsam gegenüber Google auftreten und der Nutzung vergriffener Bücher widersprechen. Dies ist im Rahmen des Vergleichs durchaus möglich, Google müsste dann mit den Verlagen neu verhandeln. Ob dabei bessere Erlöse erzielt werden können als im Settlement vorgesehen, weiß zwar niemand. Aber zumindest wollen die Verlage das Prinzip durchsetzen, dass Google vorher fragen muss und nicht Verlage beziehungsweise Autoren Google hinterherlaufen müssen. Die Verhandlungen mit Google (und anderen Firmen) soll die in München ansässige VG Wort führen, eine Verwertungsgesellschaft, die im Auftrag von Verlagen und Autoren zum Beispiel Pressespiegel abrechnet.

Fachautoren aus der Wissenschaft haben allerdings dazu aufgerufen, nicht auf die VG Wort zu hoffen, sondern das Google-Settlement sofort zu nutzen. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass wissenschaftliche Werke auf unbestimmte Zeit dem Zugriff der Öffentlichkeit entzogen würden, heißt es in einem Aufruf des Aktionsbündnisses „Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft“, dem vor allem akademische Organisationen angehören. Denn Wissenschaftler wollen vor allem sichtbar sein und sind weniger darauf angewiesen, mit ihren Veröffentlichungen Geld zu verdienen, als etwa Romanautoren. Bis zum 15. September müssen Verlage und Autoren widersprechen, wenn sie nicht wollen, dass die VG Wort für sie verhandelt.

Offiziell betreffen die derzeit laufenden Verhandlungen nur die Onlinenutzung von Büchern auf dem US-Markt. Google sagt, es könne anhand der IP-Adresse des Computers sehen, ob der Nutzer in Amerika oder in Europa sitze. Aufgrund des Vergleichs könnten nur US-Nutzer die eingescannten Bücher in Gänze sehen. Deutsche Nutzer, die nicht tricksen, sehen nur das deutsche Angebot von books.google.de. Bücher, die dort in großen Ausschnitten oder in voller Länge sichtbar sind, stehen da entweder mit Einverständnis des Verlags oder sind, wie Goethes „Faust“, nicht mehr urheberrechtlich geschützt.

Justizministerin Zypries gibt auf die Unterscheidung der Märkte nicht viel. „Das Internet kennt bekanntlich keine Grenze“, begründete sie ihr Engagement in einem US-Gerichtsverfahren. Mit einigen Tricks könne man seinen Standort verschleiern und dann doch aus Deutschland auf US-Angebote zugreifen. Außerdem werden die in den USA eingescannten Bücher auch zur Beantwortung von Google-Suchanfragen aus Deutschland genutzt. Insofern habe der aktuelle Streit doch Auswirkungen auf die ganze Welt. Zypries will vor allem verhindern, dass Google sich mit seinem frechen Vorpreschen einen Vorteil und eine marktbeherrschende Stellung sichert. Für die Ministerin geht es dabei auch ums Prinzip: „Wer nach dem Motto ‚erst tun, dann fragen‘ agiert, darf nicht belohnt werden.“

Kultur SEITE 15