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Archiv-Artikel

Wach bleiben!

LETZTE RUNDE 2 Theater als Belastungsprobe: 24 Stunden „Unendlicher Spaß“ mit dem HAU

Wieder lässt die Kunst – und das gehörte eben zu den Tugenden vieler Projekte, die Matthias Lilienthal am HAU initiiert hat – neben sich viel Raum für das Eindringen weiterer Wahr- nehmungen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Das sieht jetzt ziemlich verrückt aus. Sonntagmorgen, so gegen 5.30 Uhr, eine kleine Terrasse im fünften Stock des Finanzamts Berlin-Reinickendorf: Die Fläche ist vollgestellt mit Rollstühlen, auf jedem sitzt ein Teilnehmer der 24-Stunden-Reise „Unendlicher Spaß“, hat eine Tuchmaske umgebunden und hört die pathetische Ansprache eines Führers der Untergrundgruppe der „Assassins des Fauteuils Roulants“. Das heißt, einige hören zu, andere machen gerade ein Nickerchen, obwohl das Gebrüll des Anarchistenführers in den umliegenden Wohnhäusern erschrockene Schläfer ans Fenster holt.

Jetzt könnte man erklären, warum die Anarchisten alle im Rollstuhl sitzen und kanadische Separatisten sind, und hätte sich bald in einer Nacherzählung des Romans „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace verheddert. Nein, interessanter ist an diesem Moment, wie wir selbst, die treue Gefolgschaft der Theaterprojekte von Matthias Lilienthal am HAU, uns hier wie Aliens durch Berlin bewegen, stets hoffnungsfroh, mitten im Alltäglichen und Normalen das Bizarre und Überraschende entdecken zu können. Und ganz allmählich selbst zu ziemlich bizarren Figuren werden.

Da macht es auch nicht mehr viel, dass die Kräfte kaum noch reichen, um der letzten Lesung, die als einzige tatsächlich im Theater, im HAU 1, stattfindet, zu folgen, einer Konversation zwischen Komatösen und schon Geister Gewordenen. Jetzt gilt es, nur noch durchzuhalten bis zum abschließenden Frühstück.

Durch die Dämmerung, die sich auf das Hirn senkt, stoßen nach kurzer Zeit die heißesten Szenen der zurückliegenden Nacht: Wie Madame Psychosis (Anne Ratte-Polle), ehemals Mitwirkende an der tödlichen Filmpatrone „Unendlicher Spaß“, in ihrer Mitternachtsshow zurückgeht zu jenem Moment fast unfassbarer Klarheit vor dem Selbstmordversuch. Sie steht dabei in Tonkabine im Berliner Haus des Rundfunks, ihr Gesicht verborgen hinter einem Schleier, die Stimme technisch verzerrt, eine raue Männerstimme in einem exaltierten weiblichen Körper. Und obwohl die Empfänger ihrer Botschaft ja direkt vor ihr sitzen, spürt man zwischen sich und ihr auch die endlos sich ausdehnende Nacht über einem ganzen Kontinent.

Oder man denkt an Poor Tony Krause (Damien Rebgetz) zurück, der fast eine Stunde lang von den Leiden eines kalten Entzugs erzählt und so sprachmächtig die Verfallserscheinungen seines zarten Körpers schildert, dass man ihm bereitwillig in jede neue Windung des Schmerzes folgt. Das alles performt er in einem unglaublichen Saloon, in dem Pferdesättel, Büstenhalter und Hühner von der Decke hängen, eingerichtet im Keller eines Kulturhauses im Märkischen Viertel – ein Ambiente, das eh schon eine Show für sich ist. Beide Solos waren von Anna-Sophie Mahler inszeniert.

Was die Bustour „Unendlicher Spaß“ ebenso kultiviert wie „Die große Weltausstellung“, die das HAU im Juni auf dem Tempelhof Feld zeigt, ist der doppelte Blick, die Erkundung des Nahen und seine Überschreibung mit Fantastischem. Die fünfzehn Ausstellungsorte der Weltausstellung liegen so verstreut in der weiten Wiesenlandschaft zwischen den ehemaligen Landebahnen, dass die Wege dazwischen das Hauptereignis werden, das Zeigen von Welt also ständig zu einem Punkt zusammenschrumpft, während die Erfahrung der eigenen Gegenwart, das Gehen oder Fahrradfahren, die anderen sehen, Jogger, Skater und Menschen mit Flugdrachen, sich ausdehnt. So sehr sogar, dass man in drei, vier Stunden auf dem Gelände nur einen kleinen Teil der Pavillons schafft.

Innen gibt es dann teilweise gar nicht viel zu sehen, mehr zu denken. Warum Utopien so oft auf Inseln stattfinden, ob die vielen nach Berlin gezogenen Künstler im Alter eine eigene Kolonie brauchen, ob die Tricks der Computeranimation nicht inzwischen schon die Wahrnehmung der Wirklichkeit präfigurieren – solche Sachen. Und wieder lässt die Kunst – und das gehörte eben zu den Tugenden vieler Projekte, die Matthias Lilienthal am HAU initiiert hat – neben sich viel Raum für das Eindringen weiterer Wahrnehmungen. 2014, so kann man jetzt melden, wird er wieder Theater machen, und das Festival Theater der Welt in Mannheim mitleiten.

■ „Unendlicher Spaß“: HAU, Termine: 6., 9., 13., 16., 20., 23. und 27. Juni; „Die große Weltausstellung“, Tempelhofer Park, bis 24. Juni