berliner szenen: Geflüchtetin den Reichstag
Sie wolle nicht in die Konditorei, sagt die alte Frau zu ihrer Tochter, die selbst schon im Rentenalter ist. „Aber das wolltest du doch eben noch.“ – „Ja, aber jetzt nicht mehr, jetzt will ich erst mal wissen, was aus dem kleinen Kind geworden ist.“
Die Tochter ist es gewohnt, dass die Mutter umstandslos durch die Jahrzehnte surft. Gerade ist sie wieder im Krieg angekommen auf der Flucht aus Ostpreußen. Sie sinniert vor sich hin, dass sie ein Kind in ihre Obhut genommen hat, aber dann einfach allein weitergezogen ist. Erst später habe sie sich Vorwürfe gemacht: „Was bist du nur für ein Mensch, dass du nur an dich gedacht hast.“
Alle Umsitzenden im Altersheim hören zu, aber die alte Frau nimmt sie gar nicht zur Kenntnis. „Weißt du denn nicht, wo das Kind geblieben ist?“, wendet sie sich jetzt wieder an ihre Tochter. Die weiß es nicht, fragt aber die Mutter, ob es denn ihr eigenes Kind gewesen sei, das sie vermisse.
Die Szene erinnert an den Roman „Der Verlorene“ von Hans Ulrich Treichel, in dem die Eltern den eigenen Sohn auf der Flucht verloren haben. Nein, sagt die alte Frau empört, nein, es ist nicht ihr Kind gewesen, das Kind hatte doch keine Eltern mehr.
Die Tochter redet jetzt beruhigend auf die verwirrte Frau ein. Bestimmt sei das Kind gut versorgt worden, es sei doch jetzt schon lange erwachsen. „Nein. Glaube ich nicht.“
Sie verstummt und wirkt schuldbewusst, hält die Augen geschlossen. Vielleicht ist sie auch eingeschlafen.
Plötzlich ändert sie die Richtung ihrer Zeitreise. Sie will jetzt sofort zum Bahnhof, sie will noch mal das Haus sehen, das wie ein Geschenk eingewickelt ist. Ihre Gegenwart ist jetzt das Jahr 1995 mit dem verpackten Reichstag. Wenn Christo und Jeanne Claude das hören könnten, würden sie ihr von der Wolke herunterwinken.
Claudia Ingenhoven
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