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Archiv-Artikel

Was ist heute noch wirklich links?

von Thomas Rothschild

Die beliebte Frage, was heute „links“ sei, ist in der Regel eine rhetorische Volte. Sie soll unbeantwortet bleiben, um zu suggerieren, dass alles, was einst als „links“ galt, obsolet und verzichtbar sei. Das ist – so einfach muss man es formulieren – schlicht Unsinn. „Links“ bedeutete in der Geschichte in erster Linie: egalitär. Und das bedeutet es heute noch ganz genauso. Wer sich als der Linken zugehörig versteht – und hier wird der Begriff durchweg als politische Position, nicht als Bezeichnung einer Partei verwendet –, nimmt die Forderung der Französischen Revolution nach Gleichheit nicht weniger wichtig als die Forderung nach Freiheit, auf die sich die Liberalen kaprizieren, die an der Ungleichheit in der Gesellschaft nichts ändern wollen. Sie wissen, dass die Ungleichheit, mit der sie sich eingerichtet haben, die Garantie dafür ist, dass sie, die Besitzenden, die eigentlichen Nutznießer der Freiheit sind und dass sie für die Unterprivilegierten nur ein leeres Versprechen bleibt. Erst wenn Gleichheit hergestellt ist, wenn jeder die gleichen Möglichkeiten hat, von Freiheiten Gebrauch zu machen, wird sie zu einem Gut, das dem Fortschritt und nicht bloß der Perpetuierung von Herrschaft dient.

Wenn aber Egalität oder, mit einem moderneren Ausdruck, soziale Gerechtigkeit bei Linken oberste Priorität hat, dann zählen zweifellos auch die Kommunisten, was immer man ihnen vorwerfen mag, zur Linken. Es gehört zur Taktik der Totalitarismustheoretiker und ihrer etwas stumpfsinnigen Nachplapperer, dass sie genau dies unterschlagen: Die Nationalsozialisten und Faschisten haben niemals für Egalität plädiert. Sie betonen vielmehr die – rassisch oder wie auch immer begründete – Ungleichheit und bewegen sich damit innerhalb der Logik des Kapitalismus. Dieser grundlegende Unterschied in den Prämissen verbietet es, selbst extreme Linke mit extremen Rechten in einen Topf zu schmeißen.

Weil die Kommunisten der Linken zugerechnet werden, gelten für sie andere Maßstäbe als für die Rechten. Sie werden bis heute an der Realität der Sowjetunion gemessen, die seit zwei Jahrzehnten nicht mehr besteht. Kein Mensch misst die Katholiken an der Inquisition, an den Hexenverbrennungen, an dem zeitweilig von Geistlichen geleiteten berüchtigten faschistischen Konzentrationslager Jasenovac in Kroatien. Was den Christen zugestanden wird – dass sich ihre Ideale von der Praxis trennen lassen –, wird bei Kommunisten ausgeschlossen. Sie werden nach wie vor für Stalin verantwortlich gemacht. Und mit ihnen wird zugleich die gesamte Linke desavouiert.

Viele Linke setzten Hoffnung in die Grünen

In den Ländern, in denen die Kommunistischen Parteien, anders als über Jahre hinweg in Italien oder Frankreich, keine bedeutende Rolle im politischen Leben spielten, in denen jede Stimme, die man ihnen bei Wahlen gab, eine verlorene Stimme zu sein schien (und meist auch war), entschieden sich die meisten linken „Sympathisanten“ für das, was sie für das kleinere Übel hielten, für die Sozialdemokratie. Der Verrat der Sozialdemokratie an den linken Idealen und der eigenen Tradition ist ein Topos, der sich in der Dichtung etwa bei Erich Mühsam, Franz Josef Degenhardt und Kurt Tucholsky nachlesen lässt. Aber immer wieder erklang die Rede vom „kleineren Übel“, bis auch diese ihre letzte Überzeugungskraft verloren hatte. Niemand sah mehr so recht, worin sich die Politik eines Schröder, eines Blair, eines Mitterrand von der Politik der Konservativen unterschied. Die Sozialdemokratie war nur noch ein Übel, nicht größer und nicht kleiner als die CDU oder die FDP und ihre Entsprechungen in anderen Ländern.

Da kamen die Grünen, und viele Linke setzten Hoffnung in diese neue politische Kraft. Bald aber wurden auch sie nur zum kleineren Übel. Als ihr Kandidat Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, attestierten ihm die Medien: „Die Grünen sind in der bürgerlichen Mitte angekommen“. Und die verstanden als Lob, was zumindest den verbliebenen Linken in der Partei zu denken geben müsste. Die Grünen nehmen mittlerweile den Platz ein, den der linke Flügel der FDP einst besetzt hielt. Mit linker im Sinne einer egalitären, soziale Gerechtigkeit befördernden Politik hat das nichts zu tun. Da braucht es nicht zu verwundern, dass sich die Grünen ihren Favoriten für das Bundespräsidentenamt mit der FDP teilten. Auch er redet lieber von Freiheit als von sozialer Gerechtigkeit. Gauck ist der Mann der Wirtschaftsliberalen und eben der Grünen. Was Linke an ihm finden sollen, ist unergründlich.

Wagen wir einen Blick in die Vergangenheit. In den sechziger Jahren überraschten die Warnrufe bezüglich der ökologischen Gefahren, die unserer Welt drohen, jene Linken, die bis dahin ausschließlich auf ökonomische Fragen fixiert waren. Auch die Ökologie war damals eine linke Angelegenheit. Schließlich betraf sie mächtige ökonomische Interessen, und diese wurden mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die ökologischen Forderungen verteidigt.

Damals, als etwa Robert Jungk als einer der Ersten im deutschsprachigen Raum von Ökologie sprach, war das Wort noch unbekannt, wurde es zuweilen mit „Ökonomie“ verwechselt. Inzwischen ist das Bewusstsein über ökologische Probleme weit verbreitet, und die Geschäftsleute haben längst begriffen, dass sich auch aus ökologischen Ängsten, Projekten, Maßnahmen Profit schlagen lässt.

Im Schatten dieser Entwicklung sind klassische linke Positionen zur Ökonomie fast vergessen worden. Entfremdete Arbeit, die es entgegen gezielt in die Welt gesetzten Gerüchten nicht weniger gibt als früher, die Enthumanisierung der Gesellschaft durch Konkurrenz und die Forcierung des Konsums, die Ausbeutung Abhängiger durch „Arbeitgeber“ sind aus dem Blick geraten. So gesehen haben die Ökologisten – ungewollt, aber zunehmend bei jenen willkommen, die eine Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ablehnen – ebenso wie übrigens die Feministinnen dazu beigetragen, dass andere Missstände als die Zerstörung der Natur oder die Diskriminierung von Frauen „kein Thema mehr sind“. Zum Beispiel die Benachteiligung von Kindern aus „unteren“ Gesellschaftsschichten beim Zugang zu Bildung, die Zwei-Klassen-Medizin, die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich, die Ungleichheit, die einem entlassenen Ministerialdirektor einer rot-grünen Regierung ein Jahr lang monatliche Bezüge von rund 7.000 Euro und einer entlassenen Putzfrau, die sich nichts zuschulden hat kommen lassen, ein Arbeitslosengeld von weniger als 1.000 Euro im Monat zugesteht, oder der Klassenkampf von oben, der aggressiver, schamloser und mit Vertrauen auf den populistischen Sarrazin-Effekt siegesgewisser als je zuvor geführt wird, im Bereich der Künste eben erst mit der neoliberalen Kampfschrift „Der Kulturinfarkt“.

Kretschmann: ein „radikaler Umweltschützer“, kein Linker

Die anfänglich progressiven Impulse des Ökologismus wie des Feminismus haben sich zugunsten der Einverleibung durch die „bürgerliche Mitte“ weitgehend verflüchtigt. Der Anteil von Frauen unter den Managern schreckt das Kapital weit weniger als eine höhere Besteuerung von Managern, die Trennung von Müll bereitet ihm einen ruhigeren Schlaf als die Vorstellung einer Angleichung der Löhne von Müllmännern an die Gehälter von Bankdirektoren (die wohl auch unter solchen Bedingungen kaum mit jenen tauschen wollten).

Die Ökologisten der ersten Stunde wandten sich gegen die hemmungslose Ausbeutung der Natur, forderten Verantwortung ein für die kommenden Generationen und wiesen hin auf einen blinden Fleck bei Marx, der als Kind des 19. Jahrhunderts die Notwendigkeit der Industrialisierung für vordringlich und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen zum Wohl der Menschheit für mehr oder weniger unbedenklich hielt. Aber dieser bis heute richtige kritische Ansatz veränderte seine Position. In der Osterausgabe der taz bekannte Winfried Kretschmann unumwunden: „Ein Linker bin ich nicht“, schon eher sei er ein radikaler Umweltschützer. Und am 25. April 2012 versicherte der baden-württembergische Ministerpräsident, wie von „Kontext“ gemeldet, in der Landessschau Baden-Württemberg des SWR Fernsehens: „Aber dass wir jetzt nicht Kommunisten in den Staatsdienst lassen, daran hat sich sicher nichts geändert."

Das ist wenigstens ehrlich, aber man muss es wissen, ehe man dem Irrtum verfällt, die Umweltschützer seien noch Teil des linken Spektrums der Politik. Analog zur Reise der Grünen in die bürgerliche Mitte ist die zunächst fortschrittliche, aber stets schon ambivalente Naturidealisierung kontinuierlich – mit deutlichen Elementen der deutschen Romantik – in den Bereich des Irrationalen abgedriftet. Die durch und durch bürgerliche Reformhauskonjunktur ist dafür ein schlagender Beweis. Hinter der Vorstellung, dass, bei der Ernährung wie auch in der Medizin, „Biologie“ grundsätzlich besser sei als „Chemie“, ist nicht nur dumm, weil ja auch biologische Vorgänge chemische Vorgänge sind, sondern es liegt ihr vor allem die religiöse Annahme zugrunde, dass Gott die Welt schon vernünftig eingerichtet habe. Dass er auch die Viren und Bakterien, die Teil der Natur sind wie Bäume und Erdbeeren, dass er auch Giftpilze und Hagel geschaffen hat, wird dabei ausgeblendet. Dass die Natur an sich „gut“ sei, kann nur annehmen, wer an einen gütigen Schöpfergott glaubt. Noch in der Rede von der Erde, die sich rächt, wenn man sie aus dem ökologischen Gleichgewicht bringt, steckt dieser religiöse Gedanke, wenngleich aus der Zerstörung ökologischer Ketten tatsächlich Gefahren entstehen können, auf die hingewiesen zu haben das Verdienst der Ökologisten ist. Nur muss man nicht suggerieren, dass das ökologische Gleichgewicht gottgewollt sei. Es ist es ebenso wenig wie Erdbeben oder Steppenbrände.

Demgegenüber ist Kultur per Definition eine menschliche Schöpfung und ihre Konzeption rational, aufklärerisch, vom Glauben nicht an einen Gott, sondern an den Menschen bestimmt. Nicht umsonst wird die Veränderung der natürlichen Landschaft, also der Anbau von Getreide und Reis, ohne die noch mehr Menschen verhungern würden, „Kultivierung“ genannt. Im Lateinischen bedeutet das Wort „cultura“ Ackerbau. Und die Schaffung von Musik, von Bildern, von Gedichten und Romanen, die man Gott kaum überlassen kann, verdankt sich dem Menschen ebenso wie die Nutzbarmachung der Natur, die erst dann verderblich wird, wenn sie bedenkenlos geschieht. Wer aber diese Kultur zugunsten einer idealisierten Natur vernachlässigt, hat sich für Gott und gegen den Menschen entschieden, für den Glauben und gegen die Vernunft. Das mag für Nonnen und Mönche der richtige Weg sein und vielleicht auch für Grüne, die in der bürgerlichen Mitte angekommen sind, ja selbst für einen pastoralen Bundespräsidenten, der allen Ernstes die Aufklärung für das Christentum in Anspruch nimmt – für Linke ist er es gewiss nicht. Man kann ja, auch auf Grund der personalen Entscheidungen in den obersten Etagen der Politik, auf die Idee kommen, dass wir im Grunde in einem Kirchenstaat leben und die Religion Verfassungsrang hat. Aber noch darf man dagegen auch Widerstand leisten, darf man sich zumindest wünschen, dass die richtig verstandene Aufklärung nicht ganz ohne Folgen geblieben ist. Noch darf man die menschliche Schöpfung – die Künste, die Wissenschaft, die Kultur – für ebenso unentbehrlich und verteidigenswert halten wie Wiesen und Wälder, Vögel und Kröten, Bio und Natur.

Keine Gleichheit ohne Teilhabe aller an kulturellen Werten

Nein, dies ist kein Plädoyer für mehr Autobahnen und für vergiftete Nahrungsmittel. Dies ist keine Verteidigungsrede für den Technikwahn, unter dessen Auswüchsen wir heute leiden, den man aber andererseits historisch begreifen muss. Kinderarbeit und Umweltverschmutzung sind die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist der relative Wohlstand, den all jene für sich beanspruchen, die nicht bereit sind, so zu leben wie ihre Schwestern und Brüder in großen Teilen der nicht industrialisierten Welt. Dennoch: die ökologischen Gefährdungen können nicht widerstandslos hingenommen werden. Aber da heute jeder Bild-Zeitungs-Leser Bescheid weiß über den kranken Wald und die Gefahr einer Klimakatastrophe, sei hier einmal zum Ausgleich ganz einseitig daran erinnert, dass die Möglichkeiten zur Schaffung und die Fähigkeit zur Aufnahme von kulturellen Werten in akuter Gefahr sind. Die Teilhabe aller an den vom Menschen produzierten kulturellen Werten ist eine der grundlegenden Voraussetzung für die von Linken angestrebte Gleichheit. Der Tsunami der Kulturbarbarei, der mit Gewalt zerstört, was den Menschen zum Menschen macht, ist mehr als eine Metapher. Wenn der Widerstand ausbleibt, wird er sein Werk fortsetzen. Dann werden unsere Nachfahren vielleicht auf den noch vorhandenen Wiesen weiden. Aber sie werden sich von Kühen nicht unterscheiden.

Zugegeben: derlei Überlegungen kommen zurzeit eher ungelegen. Das Bild, das die Linke – und jetzt sprechen wir doch von der Partei dieses Namens, keineswegs von der sehr viel größeren Zahl derer, die sich als Linke begreifen – dieser Tage in der Öffentlichkeit hinterlässt, ist wenig geeignet, in ihr eine Alternative zu den Grünen zu sehen. Nüchtern betrachtet, könnte man sagen, dass sich, nach anfänglichen Erfolgen, hier wiederholt, was eine historische Gesetzmäßigkeit zu sein scheint: dass Parteien links von der Sozialdemokratie Zerreißproben ausgesetzt sind und sich meist spalten. Der Konflikt, der sich nicht durch Kompromisse überbrücken lässt, ist, vereinfacht formuliert, der zwischen radikalen gesellschaftlichen Veränderungen (vor dem Wort „Revolution“ hüten sich heute selbst die Vertreter dieser Position), ohne die Egalität nicht zu erlangen sei, weil die Privilegierten ihre Privilegien nicht kampflos abgeben, und Reformen, die in den Sozialdemokratismus zu führen drohen und meist auch führen. Die Medien kommentieren diesen Konflikt mit der erwartbaren Süffisanz. So viel Feindseligkeit müssen die Grünen schon lange nicht mehr einstecken, erst recht nicht, seit sie regieren: Ein bisschen Hofberichterstatter steckt in den meisten Journalisten.

Aber so unattraktiv die Linke sich darstellt, so sehr sie sich selbst der Möglichkeiten zur politischen Gestaltung beraubt – die Notwendigkeit, der „bürgerlichen Mitte“, sei sie nun schwarz, gelb, rosarot oder grün, ein Korrektiv entgegenzustellen, wird eher dringlicher als obsolet. Das „kleinere Übel“ wird auch in Zukunft nicht genügen.