: Wie demokratisch können Hosen sein?
DEMOKRATIE 8 Die Grenzen auch einer Liquid Democracy lassen sich an der Alltagsmode aufzeigen – etwa an der Picaldi-Jeans
■ Bisher erschienen: Paul Nolte, „Größter Umbruch seit der Aufklärung. Piraten, Wutbürger und etablierte Parteien“ (7. 4.); Micha Brumlik, „Aus der Geiselhaft des Neoliberalismus befreien. John Stuart Mill, Vordenker des Individualismus“ (17. 4.); Yanis Varoufakis, „Der Fall Griechenland: Wie gerecht ist die Finanzpolitik der Europäischen Union?“ (23. 4.); Stefan Reinecke, „Aufstände in Zeiten der Postideologie“ (30. 4.); Sonja Vogel, „Sponsoring und Kulturpolitik in Zeiten knapper Kassen“ (9. 5.); Boris Palmer: „Kopf oben, Bahnhof unten. Über den angemessenen Umgang mit einem unangenehmen Wahlergebnis“ (23. 5.). Tania Martini: „David Graeber, neueste Rakete der Kapitalismuskritik“ (31. 5.).
VON MORITZ EGE
Wenn im Feld der Kleidung und Mode von „Demokratisierung“ die Rede ist, dann meistens in einer von zwei Bedeutungen: Entweder geht es um eine neue Zugänglichkeit des vormals Exklusiven, um Designerstücke bei H&M zum Beispiel. Oder es geht, wie in der Crafting-Welle, um den Siegeszug des Selbermachens, die Demokratisierung des Produzierens. Nimmt man demokratische Ideale tatsächlich ernst, dann ist aber auch ein dritter Komplex von Bedeutung, von dem sehr viel seltener gesprochen wird: die Abkehr von der ästhetischen Orientierung am sozialen Oben, die Selbstanerkennung der Nicht-Eliten. Auch hier können Möglichkeiten zur Partizipation liegen, die derzeit fast ausschließlich am Schlagwort der Liquid Democracy diskutiert wird. Allerdings sieht man auf dem Feld der Mode auch die Fallen, die sich hier verstecken.
Für die Selbstanerkennung der Nicht-Eliten standen lange Zeit die Jeans. Durch das 20. Jahrhundert hindurch galten sie als textile Metapher für den Bruch mit den modischen Konventionen der alteuropäischen Stände- und Klassengesellschaft. Jeans symbolisierten die Jugend und das Jugendliche, die Sub- und Gegenkulturen, Sex, Anschluss ans aufregende Amerika, und immer auch: einen demokratischen Impuls. Und auch heute, das haben die britischen Sozialanthropologen Daniel Miller und Sophie Woodward nachgezeichnet, stehen sie fast schon global für „the art of the ordinary“, für die Kunst, als unauffällig, gewöhnlich oder normal durchzugehen.
In Deutschland scheint es für diese Kunst besonders viel Bedarf zu geben, stellt es in Sachen Jeans doch den Extremfall dar: Deutsche tragen an 5,2 Tagen pro Woche Denim-Stoff.
Vom egalitären Mythos ist in der Gegenwart allerdings so viel nicht übrig geblieben. Auch der Jeansmarkt präsentiert sich nach den Mustern gesellschaftlicher Hierarchien segmentiert, in preislicher wie ästhetischer Hinsicht. Viele Leute wenden erhebliche Mengen von Geld, Zeit und Wissen dafür auf, exklusive Premium-Jeans zu finden. Auf der anderen Seite stehen No-Name-Firmen, die ihre Träger in der Wahrnehmung der Privilegierten tendenziell als „gewöhnlich“ oder „prollig“ ausweisen.
Das Beispiel der Berliner Jeans-Marke Picaldi zeigt nun exemplarisch, wie Markenkult, Selbstermächtigung und soziale Ausgrenzungsprozesse unter Jugendlichen zusammenwirken. Picaldi, inzwischen auch als „Zerava“ auf dem Markt, steht exemplarisch für einen subkulturellen Stil, den viele „Picaldi-Style“ oder „Gangsta-Style“ nennen. Die Geschichte begann vor 15 Jahren, als zwei deutschtürkische Jeanshändler aus Kreuzberg auf die Idee kamen, eine Herrenjeans im Karottenschnitt produzieren zu lassen – bei einer Firma aus Istanbul namens Picaldi. Der Schnitt orientierte sich an einem Modell der italienischen Firma Diesel, der „Saddle“.
Diese Hose wurde auf der Taille, also höher als üblich, getragen und war an den Oberschenkeln etwas weiter als eine Levi’s 501 geschnitten, dann wieder schmaler zulaufend. Zuvor war sie bei den Poppern beliebt gewesen, inzwischen aber aus der Mode geraten. Picaldis Stammkundschaft waren junge Männer, die meisten von ihnen mit Migrationshintergrund. Viele von ihnen hatten die Jeans in ihre eigene Ästhetik eingepasst. Letztere stand in der Tradition der männlichen Straßensubkulturen des 20. Jahrhunderts, mit ihren Gesten von Zusammenhalt, Stärke, Spaß, Provokation, Territorialität. Mit den Jahren erlangte der Look eine gewisse Berühmtheit: Neben Picaldi-Jeans umfasste er etwa gestreifte Pullis und College-Jacken.
Sich bewusst als Teil einer Straßenwelt stilisierend, das Lokale betonend, irgendwie in HipHop-Manier, aber eben nicht nur – so grenzten sich die Picaldi-Styler ab, auch und besonders von braven „deutschen“ Bürgerkindern in Baggy Pants. Es ist vermutlich kein Zufall, dass in diesen Jahren auch Texte wie Feridun Zaimoglus „Kanak Sprak“ entstanden, in denen die Beschimpfung „Kanake“ zur Selbstbeschreibung umgedreht wurde – wie das auch unter vielen Picaldi-Kunden geschah.
Mit dem kommerziellen Erfolg des Berliner Gangsta-Rap um das Jahr 2000 erreichte Picaldis Expansion eine neue Qualität. Der Stil sprang heraus aus den postmigrantischen Nischen und verbreitete sich in der ganzen Stadt. Der Picaldi-tragende Bushido stand als Prototyp für diese Art der Straßenmode. Der Stil entwickelte sich über vermeintliche ethnische Grenzen hinweg zum Identitätszeichen fast einer halben Berliner Jungsgeneration, die sich weitgehend außerhalb der Elite befand, jenseits des Kreativbürgertums und der linksalternativen Welt. Und auch über Berlin hinaus wurde Picaldi bekannt, er stand deutschlandweit bald für den „Berlin-Style“.
Worum ging es bei diesem Trend? Unter der Oberfläche der Selbstdarstellungen sind diese Jeans schlicht funktional. Dank Schnitt und Stoff sind sie leicht und beweglich, preiswert und trotzdem Markenprodukte. Sie helfen dabei, eine attraktivere Person zu werden, die eine selbstbewusste Körperlichkeit ausstrahlt. Sie stehen für die Zugehörigkeit zur vertrauten Gruppe. Dabei sind sie einfach Hosen, und jeder weiß, dass es ein bisschen lächerlich ist, ihnen allzu viel Bedeutung beizumessen. Dennoch: Die Karriere dieses Stils sorgte für eine neue Sichtbarkeit der Jugendlichen, die ihn verkörperten. Und er trug zum Selbstbewusstsein derer bei, die sich als stilistische Pioniere verstehen konnten.
Auf die stilistische Selbstständigkeit und kollektive Selbstanerkennung hinzuweisen ist auch deswegen wichtig, weil man dieser ästhetischen Kreativität und ihrem demokratischen Charakter gerade in bürgerlichen Kreisen weithin mit Arroganz begegnete – nicht zuletzt wegen der körperlichen Stilisierung von Männlichkeit. Und genau das lässt sich angesichts des gelegentlich antagonistischen Gestus der Jugendlichen auch als angemessene Reaktion derjenigen verstehen, auf deren Zuneigung der Stil nicht wirklich abzielt. Offenkundig bedeutet Selbstanerkennung also nicht automatisch, dass man auch von anderen Anerkennung erfährt. So selbstverständlich die Kleidungsstücke für ihre Träger sind, zur städtischen Normalität gehört auch, dass der Stil – oftmals durchaus gehässig – als „prollig“ bezeichnet wird.
In dieser Etikettierung überlagern sich verhaltensbezogene, ästhetische und sozialstrukturelle Zuordnungen. Hier zeigt sich aber auch, was mit der Frage von Demokratie und (Selbst-)Anerkennung auf dem Spiel steht: Das demokratische Ideal wirft schließlich die Frage auf, inwiefern die formal gleichen und de facto ungleichen Subjekte sich als halbwegs gleichwertige anerkennen. Ist das nicht der Fall, dann ist es schon auf dieser Ebene nicht sonderlich weit her mit den demokratischen Verhältnissen. Im Migrationskontext, wo noch nicht einmal die formelle Gleichheit der Stadtbewohner gesichert ist, gilt das in besonderem Maße.
Kleidung und Mode stehen immer im Zusammenhang solcher Auseinandersetzungen, schließlich wird die Anerkennungswürdigkeit der Akteure in alltäglichen Interaktionen und Etikettierungen nicht zuletzt am textilen Auftritt festgemacht. Die verweigerte Anerkennung, die soziale Beschämung, die „hidden injuries of class“, wie es die Soziologen Sennett und Cobb in den Siebzigern nannten, sind Formen von Gewalt, die zur real existierenden Demokratie gehören und ihrem Ethos zugleich fundamental widersprechen.
In dieser sozialen Arena, unter den Kunden und auch Beschäftigten von Picaldi, zeigen sich diese Widersprüche im Umgang mit potenziell herabsetzenden Fremdzuschreibungen.
Einerseits benennen nicht wenige ihren Stil genau so: „Wir wollen das Prollige“, was zum Beispiel groß gedruckte Logos und ähnliche Stilmittel meint, die anderen als peinlich gelten. Erläuterungen wie diese entwaffnen herabsetzende Fremdzuschreibungen und verwandeln sie in offensive Selbstbekenntnisse. Andererseits sind bei sehr vielen Kunden im Umgang mit solchen Vokabeln und Zuschreibungen erhebliche Unsicherheiten im Spiel. Man merkt schnell, dass sie von sozialen Beschämungen zeugen. Zudem geht es vielen, zumal Jüngeren, mit ihrer Stilwahl auch schlicht um Versuche, an einer Normalität teilzuhaben, bei der man zunächst nicht zwischen dem eigenen Umfeld und einem weiteren Horizont unterscheidet – diesen Unterschied bekommt man dann aber unsanft beigebracht. Die Geschichte dieses Stils ist also eine Geschichte von (Selbst-)Anerkennungsprozessen, aber sie lässt sich letztlich gerade nicht in rundum demokratisierungseuphorischem Tonfall erzählen. Die klassischen sozialästhetischen Entwertungsmechanismen und Konflikte sind keinesfalls verschwunden und werden es auch in einer Liquid Democracy nicht sein, sie liegen offen zutage.