: Du sollst der Seele gehorchen
STAATSOPER Die Oper als gegenreformatorisches Reformprojekt: Cavalieris Ur-Oper strahlt wie neu. Hindemiths und Brechts „Lehrstück“ verdämmert in der Wärmestube
VON NIKLAUS HABLÜTZEL
Vielleicht ist es doch kein Vorurteil, dass Opern eine konservative Form des Theaters sind. Als vor über 400 Jahren die ersten Stücke der neuen Gattung entstanden, wollten ihre Autoren gleich zwei Traditionen restaurieren: die Tragödie der Antike mit ihrem Chorgesang und die Liturgie der katholischen Kirche, die mit der Reformation in die Krise geraten war.
Beides ließ sich glänzend verbinden, fand der aus dem römischen Hochadel stammende Emilio de’ Cavalieri, Diplomat und Generalintendant für repräsentative Feste sowohl im Dienste der Medici als auch der Aldobrandinis, ihrer römischen Gegenspieler, deren mächtigster Vertreter Papst Clemens VIII. war. Nebenbei war Cavalieri auch noch Tänzer und Organist, und als Ergebnis seiner Gespräche mit den Gebildeten seines Standes komponierte er ein Stück für die Bühne, das im heiligen Jahr 1600 ein programmatisches Beispiel geben sollte. Es heißt „Rappresentatione di Anima et di Corpo“ und darf wohl mit Recht die erste Oper genannt werden, die jemals aufgeführt worden ist.
Mustergültig stilgetreu
Die Partitur ging kurz danach mit einem Vorwort in Druck, das ausführliche Anweisungen für künftige Inszenierungen enthält. René Jacobs brachte das Werk in eine Fassung, die von den Experten der Akademie für alte Musik Berlin mustergültig stilgetreu und in farbiger Klangschönheit aufgeführt werden kann. Dazu hat die Staatsoper Achim Freyer und sein Ensemble für die Regie und das Bühnenbild engagiert. So entstand ein Gesamtkunstwerk, das 90 Minuten lang das reine Vergnügen für Ohren und Augen ist.
Zwei völlig disparate Welten und Zeiten sind in eine glitzernde Zauberkugel eingesperrt. Zum einen Cavalieris Gegenreformation, die Jacobs in aller Härte vorführt: Schluss mit den hochkomplexen Polyphonien des 16. Jahrhunderts über lateinische Texte, die kein Mensch versteht. Stattdessen einfache, homophone Chorsätze, Soli und Duette allegorischer Personen über einer Basslinie, mit Lauten oder Cembalo harmonisiert, zu schlichten italienischen Versen mit klarer Botschaft. Der Körper soll seinen Lüsten entsagen und der Seele gehorchen, die dem Rat des Himmels folgen und nur Gott lieben will. Das Ganze in drei Akten, von zwei Kindern eingeleitet, deren Botschaft lautet: Reichtum und Ruhm der Welt sind vergänglich, ewig ist nur Gottes Reich. Tänze und instrumentale Zwischenspiele sorgen für die Entspannung, die nötig ist, die Predigt ganz in sich aufzunehmen.
Auf der anderen Seite dieser Propaganda des Glaubens steht die Regie Achim Freyers, der davon nur so viel versteht wie ein Kind, das spielen möchte. „Himmel und Hölle“ sind auf dem Bühnenboden aufgemalt, am Rand sitzen Orchester und Chor, in schwarzen Gewändern, Hüte auf dem Kopf. Die Allegorien haben ihre Auftritte, die schnöde Welt vor allem, und auch die Zeit, die langsam voranschreitet. Aber nie geht es um die Bedeutung, alles ist Bild wie in einem Traum voller seltsamer, schöner Gespenster, lustig manchmal, dann wieder so ernsthaft, dass es komisch ist. Man wacht auf und weiß nur, dass die letzten Fragen nach dem Sinn der Welt noch immer nicht gelöst sind. Das verdient den stürmischen Applaus des Premierenpublikums, lässt aber die Frage offen, welchen Sinn denn nun die Oper selbst hat, die so viel Geld kostet: Sollen wir mit Cavalieri in den Schoß der katholischen Kirche zurückkehren oder mit Achim Freyer fröhlich unsere inneren Gespenster pflegen?
Theater als Wärmestube
Michael von Zurmühlen hält sich in besonderem Maße für solche Sinnfragen zweiter Ordnung zuständig. Irgendwo hat er den Satz aufgeschnappt, das subventionierte Staatstheater sei eine Wärmestube für Künstler in der Kälte kapitalistischer Gesellschaften. Bertolt Brecht und Paul Hindemith hätten wohl mehr zu sagen gehabt über die Rolle von Institutionen, als sie 1929 zwei Stücke schrieben, die sich mit Charles Lindberghs Überquerung des Atlantiks im Flugzeug beschäftigten. Von Zurmühlen hat das zweite davon, „Lehrstück“ genannt, in die Werkstatt des Schillertheaters geholt, die er als Suppenküche ausstaffiert hat.
Am Samstag durften sich zum ersten Mal zahlende Gäste an die kahlen Tische unter dem Neonlicht setzen. Wenn sie nicht gestorben sind, sitzen sie dort noch heute und lauschen den Stammgästen, die sich an ihren immer gleichen Sätzen über das System, die Kunst und Schlingensiefs Kirche der Angst berauschen. Zwischendurch singen und spielen Profis der Staatsoper Hindemith und Brecht, mehr schlecht als recht. Orchestrale Zwischenspiele kommen vom Band. Brecht wie Hindemith fanden wohl auch, dass die Oper zu konservativ ist. Bei Zurmühlen erscheint diese Einschätzung als richtig.
■ Nächste Aufführungen: Cavalieri: 13., 15., 17. Juni; Lehrstück: 12., 14., 16. Juni