Ukrainische Geflüchtete in Berlin: Fuß fassen in der Wartehalle

Zhenya W. floh mit ihrem Sohn aus der Ukraine nach Berlin. Eigentlich möchte sie nicht wirklich ankommen – arbeitet jedoch energisch daran.

Frau sitzt und telefoniert, Junge spielt im Hintergrund

Spielen und Warten: Zhenya und ihr Sohn Yeghor in ihrem neuen Zuhause Foto: Stefanie Loos

Yeghor nimmt schnell Fahrt auf. Am Startpodest einer Seilbahn stehen drei Jungs und werfen ihm kurze deutsche Satzbrocken wie „schneller“, „jetzt ich“ oder auch etwas internationaler „cool“ zu. Er antwortet zackig „okay“ und „gleich“ und scheint überhaupt nicht zu hören, dass seine Mutter schon dreimal auf Ukrainisch nach ihm gerufen hat.

Auf dem riesigen Pausenhof der Grundschule Zepernick in der kleinen Gemeinde Panketal vor den Toren Berlins blinzelt die warme Sonne durch die Blätter der großen alten Linden. „Yeghor, Yeghorka“, ruft Eugenia W., die sich aber von allen Zhen­ya rufen lässt, vom Rand des Spielplatzes inzwischen zum vierten Mal, aber der siebenjährige Junge reagiert nicht. Sie zuckt mit den Schultern. „Ich glaube, er hat hier viel Spaß. Er ist aufgeregt“, sagt sie.

Es ist nur ein paar Wochen her, dass ich Zhenya W. zum ersten Mal für die Zeitung interviewt habe. Damals erzählte sie viel von ihrer Flucht Anfang März aus Mykolajiw im Süden der Ukraine zwischen Odessa und Cherson – und von ihrer Ankunft in Deutschland. Aufgenommen wurde sie von einer Familie mit zwei Kindern, dort wohnt sie im kleinen Gästezimmer des großen Hauses mit Garten.

Zhenya hat auf der Flucht aus dem Autofenster zerfetzte Leichen auf der Straße gesehen, nicht aber Yeghor, der in diesem Moment abgelenkt war, wie sie glaubt. Bislang haben die beiden niemanden aus Familie und Freundeskreis verloren. Zhenyas Mann und Yeghors Vater ist Schiffbauer und arbeitet zur Zeit auf einer Werft in Finnland. Das Haus, in dem sie mit Yeghor lebte, steht noch.

Flucht aus der Ukraine

Ich habe Zhenya W. Ende März an unserem Esstisch kennengelernt. Sie ist die Bekannte einer fünfköpfigen Familie, die mein Mann, meine 13-jährige Tochter, mein 8-jähriger Sohn und ich aufgenommen haben. Wir verstehen uns gut mit der Familie, doch ich fühle mich zu befangen, um über sie zu schreiben.

Eine Langzeitbeobachtung

Zhenya W. hingegen wohnt 300 Meter weiter. Das ist nicht weit, aber weit genug entfernt. Zhenya W. ist Anfang März mit ihrem Sohn Yeghor vor dem Krieg aus der Ukraine geflüchtet und in der kleinen Gemeinde Panketal am nördlichen Stadtrand Berlins privat untergekommen. In einer Serie soll von ihrem Ankommen in Deutschland berichtet werden, der Auftakt dazu ist am 9. April erschienen. (sm)

Damals drehte sich unser Gespräch noch viel um die Frage, wie es mit Yeghor weitergehen soll. Zhenya war voller Zweifel. Damals hatte gerade die ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka lautstark eine Integration der Flüchtlingskinder ins deutsche Schulsystem abgelehnt. Der Unterricht in der Ukraine sei intensiver. Die Schülerinnen und Schüler könnten online lernen. Zhenya ist ehrgeizig mit ihrem Sohn, macht seit den ersten Tagen in Deutschland mit ihm am Computer den Unterricht aus der Ukraine, lernt außerdem mit ihm Deutsch. Sie betont gern, wie viele Kurse von Karate bis Roboterbaukunde er seit dem vierten Lebensjahr neben Kindergarten und Schule absolviert hat.

Eins von 61.000 Kindern

Doch nun geht Yeghor seit einigen Tagen in eine von zwei Willkommensklassen der Grundschule Zepernick für rund 20 der neuen ukrainischen Kinder in der Gemeinde. Damit ist er eines von 61.000 geflüchteten Kindern bundesweit und eines von etwa 2.500 in Brandenburg, die hier nun schon zur Schule gehen.

Und auch wenn das nicht leicht ist: Yeghor muss trotzdem mit seiner Mutter dasselbe Programm nach der Schule absolvieren, für das er ohne Schule oft den ganzen Tag Zeit hatte – manchmal bis in den späten Abend hinein. „Aber er ist böse, wenn ich ohne ihn Deutsch lerne. Das gemeinsame Lernen ist Familienzeit für ihn, es macht ihm Spaß“, beschwichtigt Zhenya und lacht.

Zhenya scheint dennoch ein bisschen weicher, vielleicht aber auch nur mürber geworden zu sein in den letzten Wochen. Vor vier Wochen hat sie noch gesagt, sie lasse ihren Sohn nicht genug spielen. Jetzt schaut sie ihm gern dabei zu. „Das deutsche Bildungssystem ist gut“, sagt sie auch, und sie lobt die Schule, weil Yeghor trotz des Deutschunterrichts kein Mathe verpasst. Während sie ihn in der ersten Woche aber bereits gegen Mittag abgeholt hat, kommt sie jetzt erst nach 14 Uhr. „Er wird hier viel Deutsch aufschnappen“, sagt sie.

Eine halbe Stunde später, auf einer Bank am Rand des Pausenhofs, kann er die meisten Fragen, die ich ihm so langsam wie möglich auf Deutsch stelle, mindestens so gut verstehen wie seine Mutter. Er sagt mit geduldiger Miene, dass er schon drei Freunde gefunden hat, zählt dann fünf Namen auf. Fügt sogar an, dass die Jungs beim Fußball fair spielen. Und dass die Lehrer nett seien. Alltag, Struktur und Ablenkung scheinen Yeghor gut zu tun, er wirkt gelöst derzeit. Auch wenn die Flucht und das Wissen, dass zu Hause Krieg ist, immer in ihm sein muss.

Der Nachmittag schreitet voran, Zhenya, die bislang so entspannt wirkte, schaut nun doch mal auf die Uhr. Sie muss heute noch den Sohn ihrer Gastgeberin im 20 Minuten Gehweg entfernten Kindergarten abholen. Yeghor mault, als er das gebrauchte Rad holen soll, das Zhenya ihm kürzlich gekauft hat. Er findet es auch wenig lässig, dass seine Mutter den Rucksack tragen möchte. Aber er fügt sich. „Ich brauche endlich auch ein Fahrrad und muss richtig Radfahren lernen“, stöhnt seine Mutter nach fünf Minuten Weg und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ohne die alten Bäume vom Schulhof brennt die Sohne plötzlich viel zu heiß für diese Jahreszeit. Zhenya ist trotzdem zügig unterwegs. „Zum Deutschkurs brauche ich 20 Minuten, zum Supermarkt fast 30, dann noch die Arztbesuche, das frisst Zeit.“

Noch mehr Aufwand haben Zhenya in den letzten Wochen die Ämter gekostet, die Anrufe, Mails und Briefe. Sie hat es geschafft, in einem eigens dafür eingerichteten wöchentlichen Zeitfenster einen Telefontermin mit der Ausländerbehörde zu ergattern. Dort hat sie herausgefunden, dass sie zwar schon jetzt ein Bankkonto einrichten kann, aber nicht muss. Das Geld, das ihr monatlich zugesichert wurde, wurde nicht wie erwartet bereits beim zweiten Mal überwiesen, sondern sie musste es noch einmal persönlich abholen.

„Zwei Monate warten ist lang“

Sie hat recherchiert, dass derzeit niemand weiß, wann sie endgültig registriert sein wird, wann sie mit Überweisungen, ihrer Arbeitserlaubnis und Gesundheitskarte rechnen darf. Ein Job als Englischlehrerin an einer Privatschule, an der sie sich trotz fehlender Deutschkenntnisse beworben hat, ist wohl auch deshalb geplatzt. Jetzt ist die selbstbewusste Zhen­ya sauer. Sie will es erst wieder mit einer Bewerbung versuchen, wenn ihr Aufenthalt eindeutig geklärt ist. „Zwei Monate warten. Das ist eine lange Zeit für uns“, schimpft sie.

Hinzu kommt: Durch ihre Gastgeber weiß Zhenya, dass ab Juni nicht mehr die Ausländerbehörden, sondern die Jobcenter für ihre finanzielle Unterstützung zuständig sein sollen. Erst kürzlich war sie auf einer Informationsveranstaltung der Gemeinde, um zu erfahren, wie das vor sich gehen soll. Man habe ihr gesagt, dass sie sich selbst beim Jobcenter melden könne, wenn sie das wünsche. Und sie hat erfahren, dass es schwierig werden wird, eine eigene Wohnung zu finden. Der Kreis Barnim, heißt es, verfügt derzeit über keine Wohnungen mehr, die das Amt bezahlen würde.

Zhenya sitzt eigentlich noch immer in einer Wartehalle ohne Ziel – oder besser: Sie läuft darin energisch auf der Stelle, bis zur Erschöpfung. Beim letzten Treffen erzählte sie, dass sie lieber morgen als übermorgen zurück würde.

Nun erzählt Zhenya auf dem Weg durch Panketal: Es ist ein Unterschied, aus welchem Teil des Landes man kommt. Rund um Kiew sind einige Menschen schon wieder zurück. „Ich vermisse die Ukraine“, sagt Zhenya, auch, wenn ich immer mehr deutsche und ukrainische Freunde finde.“ Wir unterhalten uns über die Rede Putins zum sogenannten Tag der Befreiung am 9. Mai auf dem Roten Platz. Wie viele Be­ob­ach­te­r*in­nen hatte auch Zhenya das Gefühl, dass Putin wankt. Und je mehr sie so fühlte, desto stärker wuchs auch wieder ihre Hoffnung.

Aber Zhenyas Heimatstadt, Mykolajiw am Schwarzen Meer, liegt nur 90 Kilometer vom besetzten Cherson entfernt. Die ganze Region soll nach russischen Vorstellungen die Landverbindung zwischen der Krim und dem Donbas werden. Seit Beginn des Krieges liegt Mykolajiw unter Beschuss.

Ein paar Wochen nach Hause

„Wenn es sicher und möglich wäre, würde ich gern irgendwann ohne Yeghor ein paar Wochen nach Hause, mich um einige Sachen zu kümmern und dann nach Deutschland zurückzukehren, um weiter hier zu leben.“ Sie seufzt. „Wir sind so überstürzt aufgebrochen. Ich konnte nicht einmal den Kühlschrank leeren und den Müll runterbringen. Und ich hätte so gern meinen Laptop“, fügt sie an. „Ich würde so gern meinen Frieden machen.“

Und während sie geschickt einen kleinen Streit um das bessere Bonbon zwischen dem kleinen Jungen aus dem Kindergarten und dem größeren Jungen schlichtet, der ihr eigener ist, fragt sie sich; „Wo werden wir in zehn Jahren stehen?“

Und dann, nach einer kurzen Pause: „Nehmen wir an, es werden acht oder zehn Jahre.“ Noch eine Pause. „Dann hat Yeghor die Schule fertig und möchte vielleicht in Deutschland studieren.“

Zhenya möchte eigentlich noch lange nicht ankommen in Deutschland. Trotzdem ist sie ein Stück weiter herangerückt.

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