Außerirdische Vorfreude

Was Siegfried Kracauer schon 1927 über den Confed Cup und die Folgen wusste

Hat Kracauer vor beinahe 80 Jahren etwa Beckenbauer vor Augen gehabt?

Wie wird das erst übers Jahr werden? Bei erhöhter Betriebstemperatur? Fragt man sich. Die eine grollt bereits, dem andern geht es auf die Nerven: Alle fußballern sie jetzt, seufzen sie, denen ansonsten Kulturpessimismus völlig fremd ist. Ahnen die in jene Richtung geneigten Beobachter eventuell sogar, dass sie damit auf Siegfried Kracauers Groteske „Sie sporten“ anspielen, erschienen 1927 in der Frankfurter Zeitung? „Seit der Sport so epochal geworden ist, wissen die Menschen endlich, was sie anfangen sollen. Es fliegen lauter Bällchen durch die Luft.“

Was dieser Tage überwiegend kunstvoll durch die Luft fliegt, über den Rasen rollt, über den Bildschirm flimmert, ist allerdings nur eine Kostprobe, ein kümmerliches Vorspiel, die reduzierte Fassung, Ouvertüre. Das epochal-gigantische, wenn nicht säkulare Großereignis folgt im kommenden Jahr, wenn „die Welt zu Gast bei Freunden“ sein wird.

Ein Claim übrigens, den Außerirdische frohgemut ersonnen haben, einer Visite des Homo sapiens entgegenblickend. Kracauer seinerseits sah noch mehr: „Sie haben Stadions angelegt wegen der Massen. Alle wollen sie dabei gewesen sein, der Präsident wird erwartet. Die Autostraßen sind schon am frühen Morgen gesperrt; unser Verkehr.“ Da wird man stutzig: welcher Präsident? Hat Kracauer vor beinahe 80 Jahren etwa antizipierend die bajuwarische Lichtgestalt vor Augen gehabt? Der letzte Rest von Zweifel schwindet, dass Kracauer den omnipräsenten Beckenbauer prophezeite, wenn er schreibt: „Der Präsident sieht vorzüglich aus, während die Massen mit Genugtuung empfinden, dass sie anwesend sind.“

Die Genugtuung ist steigerungsfähig, wird zum Wohlbefinden, so man bedenkt, dass die in Stadien, Straßen, Schienen investierten Milliarden nicht besser angelegt sein könnten: „Direktoren und Präsidenten unterstützen das ideale Streben, ihnen liegt die Wohlfahrt des ganzen Volkes am Herzen. Wer Leib hat, hat auch Religion. Bemühen sich nur alle um die Bällchen, so wird die Wirtschaft immer kräftiger und schöner.“ In dieser Hinsicht erwirbt sich speziell die 1904 gegründete Fifa permanent Verdienste sowie auch eine Firma wie Adidas als exklusiver Bällchenlieferant des gegenwärtigen Turniers. Das Logo des Konkurrenten Nike dagegen musste die brasilianische Equipe in sämtlichen Exemplaren einer Broschüre tilgen, die man an die Fans zu verschenken gedachte. Marginale Konflikte, aus denen nicht nur die Wirtschaft lernen wird.

Der Prozess hat längst begonnen. Ein Kreislauf. Die gebotene Strenge bringt den Kreislauf der Wirtschaft auf Touren. Am Stadioneingang beispielsweise. Dort stehen Mülltonnen mit der Aufschrift „Nur für Speise- und Lebensmittelreste“. Die Massen werden entlastet. Sie müssen alles Verzehrbare, was sie mitbringen, hineinwerfen, bevor sie anwesend sein dürfen. Wenn die Tonnen voll sind, nähern sich Sammler, die aus den Tonnen die Flaschen und Speise- und Lebensmittelreste angeln. Die Sicherheitskräfte dulden die Verwertung. Der soziale Frieden wird gefördert. „Ein einigermaßen feinfühliges Bällchen merkt sofort, welcher Klasse die Leute angehören, die es gerade bedienen.“

Weiterer Frieden ist wünschenswert. Der Frieden stiftende Aspekt der Veranstaltung ist bedeutend, das wusste auch Kracauer: „Die Wettspiele bahnen eine internationale Verständigung an, weil die Vertreter in den Stadions sich kennen lernen. Sie schlagen sich friedlich, die Zeit der allgemeinen Verbrüderung ist nicht mehr fern. Jeder Sieg wird als Nationalsieg gefeiert. Wenn sie wieder einmal Krieg führen, kennen sie einander. Der Unparteiische pfeift.“

Das ist eine Konstante. Sie macht das Spiel interessant. Der Zauber eines schönen Spiels ist überwältigend. Je mehr schöne Spiele, desto überwältigender sind sie. Alle sind froh. Der Unparteiische sowieso. „Der Unparteiische hat es gut, er darf pfeifen.“ Das ist längst bekannt. Variabel aber ist der Grad der Vollkommenheit auf allen Seiten. Afrikanische Musiker, die das Begleitprogramm in der WM-Stadt mit Ethno-Appeal ausstatten sollten, erhielten kein Einreisevisum.Wir sind gespannt. Die Vorfreude.

Im nächsten Jahr wird mehr als alles vorbildlich werden. Ein Fest. Etwaige organisatorische Komplikationen des gegenwärtigen Turniers sind lediglich geringfügigen handwerklichen Nachlässigkeiten geschuldet. Man arbeitet unermüdlich. Man lernt. Die Technik ist vorhanden. Die jetzt noch unvollkommene Digitalisierung in der Kontrollgesellschaft strebt überdies der Perfektion entgegen. Freiheit wird durch Sicherheit erst perfekt. „Inzwischen fliegen immer mehr Bällchen durch die Luft.“

Im Profi-Fußball, sagte Nick Hornby unlängst, habe sich, seit er „Fever Pitch“ schrieb, „mehr verändert als in den 100 Jahren zuvor“. Das ist nicht übertrieben. Abgesehen von der Tatsache, dass manches unverändert bleibt. DIETRICH ZUR NEDDEN