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Bar jeder überflüssigen Note

E-Musik bei gleißendem Licht: Es gibt romantische Kompositionen, beim Jewish Culture Festival in Krakow eine israelisch-iranische Kooperation, während sich beim Detect Classic Festival an Mahlers unvollendeter 10. Sinfonie versucht wird

Von Robert Miessner

Sie hätte halten können, die Brücke über den Bosporus, die Leonardo da Vinci 1502 entworfen hatte und mit der sein Auftraggeber Sultan Bayezid II zum Boss der mit 280 Metern damals längsten Brücke weltweit geworden wäre, hätte den Herrscher nicht die Traute verlassen. Die nachträglich günstige Prognose für das Bauwerk trifft eine Studie aus dem Jahr 2019. Jetzt, da der Festivalsommer beginnt, ist da Vincis Entwurf Namensgeber eines Konzerts im Rahmen des bereits angelaufenen 34. Bodenseefestivals: Am 31. Mai findet im Kaisersaal von Schloss Salem das Programm „Il Ponte di Leonardo“ statt, bestritten wird es von dem Instrumentalseptett Constantinople und dem Tenor Marco Beasley.

Constantinople ist 1988 von den persisch-kanadischen Brüdern Kiya und Ziya Tabassian gegründet worden, das Ensemble pflegt Alte Musik und Musik des Mittleren Ostens. Mit dem italienischen Sänger und Musikhistoriker Beasley haben Kiya und Constantinople vor zwei Jahren das Album „La Porta D’Oriente“ veröffentlicht. Ähnliches, die Verknüpfung der Lieder der italienischen Renaissance und des osmanischen Hofes, verspricht „Il Ponte di Leonardo“.

Im Zeichen der Romantik steht vom 15. bis 19. Juni das 25. Hambacher Musikfest. Das Festival wurde 1997 von den Musikern des Mandelring Quartetts, eines Streicherensembles, ins Leben gerufen. Zur Eröffnung war damals das „Klavierquintett in f-Moll“ des spätromantischen französischen Komponisten César Franck aufgeführt worden. In dieses Jahr fällt der 200. Geburtstag Francks, und so markiert sein Stück auch diesmal den Beginn des Festivals, welches wiederum sein Vierteljahrhundert feiern kann.

Ein Name taucht prominent im ganzen Festivalprogramm auf: Johannes Brahms, Komponist romantischer Kammermusik, der im 19. Jahrhundert so etwas wie eine minimalistische Programmatik formuliert hat: „Es ist nicht schwer, zu komponieren. Aber es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen.“ Zu Brahms 100. Todestag hat der Musikpublizist Frieder Reininghaus 1997 in dieser Zeitung auf ein anderes, bemerkenswertes Zitat hingewiesen. 1895 schrieb Brahms, er sei „entsetzt über die Tatsache, daß bei den offiziellen Stellen der Stadt Wien die Antisemiten die Oberhand bekommen hatten.“ Der Komponist weiter: „Jetzt ist es wahr und damit auch die Pfaffenwirtschaft. Gäbe es eine Antipfaffenpartei – das hätte noch Sinn! Aber Antisemitismus ist Wahnsinn!“

Vom 24. Juni bis zum 3. Juli findet in Krakow und dort speziell im ehemaligen jüdischen Stadtteil Kazimierz das 31. Jewish Culture Festival statt. Anderthalb Wochen lang wird es in der südpolnischen Stadt, der zweitgrößten des Landes, auf Konzerten, in Stadtrundgängen, Radiosendungen, Diskussionsforen und Workshops rund um das hier weit gefasste Thema jüdische Kultur gehen.

Am See, im Schloss, am Steg

Bodenseefestival: noch bis 6. Juni, bodenseefestival.de

Hambacher Musikfest: 15. bis 19. Juni, hambachermusikfest.de

Jewish Culture Festival Krakow: 24. Juni bis 3. Juli, www.jewishfestival.pl/en

Klassik Festival Momentum Stolberg: 7. bis 10. Juli, festival-momentum.de

Detect Classic Festival / Schloss Bröllin: 29. bis 31. Juli, detectclassicfestival.de

Jazz am Kaisersteg: bis 1. Oktober, www.jazzkeller69.de

Drei Tipps aus dem umfangreichen Programm: Am 29. Juni stellt in der Tempel-Synagoge der Trompeter und Komponist Frank London, bekanntgeworden durch die Band Klezmatics, sein 2021 erschienenes Album „Ghetto Songs (Venice and Beyond)“ in großer Besetzung vor. Am selben Ort tritt am Abschlussabend die israelische Sängerin Liraz Charhi auf. Die Tochter aus dem Iran emigrierter sephardischer Juden hat 2020 mit „Zan“ ein Album veröffentlicht, auf dem sie von iranischen Musikern begleitet auf Persisch singt. Das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Über mehrere Tage läuft das Programm „Future of Memory“, kuratiert vom Autor Max Czollek. Die Entfernung von Berlin nach München ist übrigens annähernd dieselbe wie die nach Krakow.

Mit Krzysztof Pendereckis „Cadenza / Viola Solo“ gehört das Werk eines polnischen Komponisten zum Eröffnungsprogramm des 7. Klassik Festivals Momentum im rheinländischen Stolberg. Es läuft vom 7. bis zum 10. Juli, das 8-minütige von Silas Zschocke (Viola) und Aurel Dawidiuk (Klavier) interpretierte Stück Pendereckis stammt aus dem Jahr 1984 – aus einer Zeit, als der ehemalige Avantgardist längst zur Tradition gefunden hatte, was ihm durchaus und nicht selten zum Vorwurf gemacht worden ist.

Dabei passt „Cadenza“ auch gut zu dem Komponisten, den die diesjährige Momentum-Ausgabe in den Mittelpunkt stellt: den bereits in Hambach gewürdigten César Franck. Der kann keine Elite im Blick gehabt haben, als er zum Beispiel seine Orgelwerke ausdrücklich für die wiederkehrenden sonntäglichen Gottesdienste geschrieben hat. Das Momentum-Festival will den Kreis der Klassikhörer ausdrücklich erweitern: Seine Intendantin Patricia Sohre Buzari weist im taz-Gespräch darauf hin, dass sie in den letzten Jahren Teenagerpärchen auf den Konzerten gesehen hat. Sie findet das ausdrücklich gut.

Einen ähnlich offenen Ansatz verfolgt das 2. Detect Classic Festival vom 29. bis zum 31. Juli. Irgendwie schafft es das jüngste der hier vorgestellten Festivals, dass bereits seine Orte die Stars sind. Sein Debüt gab das Detect 2021 auf dem ungenutzten Teil des Flughafens Neubrandenburg-Trollenhagen und hatte dabei offenbar vor, das Fusion-Festival der E-Musik zu werden. In diesem Jahr zieht es auf ein 800 Jahre altes Rittergut unweit der polnischen Grenze, auf Schloss Bröllin.

Beim Momentum-Festival wurden Teenagerpärchen bei den Konzerten gesichtet

Eines der Werke, die dabei zur Aufführung kommen werden, ist ein fast schon mythisches Fragment: die 10. Sinfonie von Gustav Mahler, die unvollendet geblieben ist und die mehrere Versuche zur Vervollständigung erfahren hat. Dass diese diskutiert wurden, gehört zum guten Ton. Eine der jüngsten Interpretationen hat der Elektronik-Musiker Matthew Herbert 2010 vorgelegt. In Bröllin werden es die Junge Norddeutsche Philharmonie und das Trickster Orchestra sein, die Mahler weiterdenken und weiterspielen.

Ein Frühlingsfest, ausdrücklich auch für Kinder und damit dem Hambacher und dem Momentum Festival gleichgesinnt, gibt der Berliner Jazzkeller 69 e.V. am 21. Mai im Rahmen seiner 20. Veranstaltungsreihe „Jazz am Kaisersteg“ in Oberschöneweide. Dazu gehört eine Ausstellung mit Arbeiten der Fotografin Cristina Marx und natürlich bis Anfang Oktober eine stolze Reihe von Konzerten, von denen mindestens zwei im Bereich der E-Musik spielen: Am 25. Juni stellt der junge, 1998 in Berlin geborene Komponist Viktor Gelling seine großformatige Band TPMC vor, ein zwischen Vergnügen am Geräusch und Freude an Pop-Musik oszillierendes Ensemble. Am 20. August dann The Dorf, eine Gründung des Komponisten Jan Klare, eine unberechenbare Big Band, an der auch schon einmal FM Einheit, vormals bei den Einstürzenden Neubauten, mitwirkte.

Der Kaisersteg übrigens ist eine Brücke, zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Grundrentengesellschaft Wilhelminenhof und der AEG gebaut, am Ende des Zweiten Weltkriegs von der SS gesprengt und zwischen 2005 und 2007 neu errichtet.

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