„Als sein Eigenstes die Sehnsucht“

Als Mann mit Bart und deutscher Tiefe ist Johannes Brahms verdenkmalt worden. Zum 100. Todestag des vaterländischen Komponisten ein kritischer Blick zurück nach vorn  ■ Von Frieder Reininghaus

Als das letzte Jahrhundert zur Neige ging, schien auch das Werk des Johannes Brahms unter Dach und Fach: Das offenkundig Mitteilenswerte war geschrieben, gedruckt und in die Welt hinausgesandt. Entlassen auf seine Umlaufbahnen jener „Weltgeist der Musik“, dem der expressionistische Blick ansah, daß er „die Klaviere zertrümmert“ (Ernst Bloch: „Geist der Utopie“). Längst lasteten auf dem vielfach Mißverstandenen Einsamkeit und ein gewisser Überdruß, als eine respektvoll erschütterte Öffentlichkeit am 3. April 1897 den Tod des zuletzt in Wien lebenden Meisters zur Kenntnis nehmen mußte.

Für gewöhnlich prägen sich während der Zeitspanne von 100 Jahren die Grundmuster der Rezeption und Interpretation eines Lebenswerks aus – und spielen sich ein. Auch für Brahms hat sich auf den ersten Blick seit langem wenig bewegt: Der bärtige Mann, dieser knorzig-eichenhaft wirkende Künstler aus Hamburg, steht als Denkmal, das ihm in gebotenem Respekt gesetzt wurde – errichtet nicht nur für einen, den man zunächst als „Sprecher und Parteihaupt einer züchtigen mitteldeutschen Bourgeoisie mißverstehen“ wollte, sondern dargebracht durchaus dem „heißen, dunklen, tiefen Brahms“ (Bloch).

Gegenpol zu den Neuerern

Seine Produkte haben ihren Platz in den Regalen des Musikalienhandels behauptet. Im Seelenhaushalt des deutschen Bürgertums ohnedies. Brahms repräsentiert noch immer den gewichtigsten Gegenpol zu den großen musikalischen Neuerern des 19. Jahrhunderts, von denen der eine – Franz Liszt – die Begriffslosigkeit von Instrumentalmusik durch eine ungeheure Palette von programmatisch genährten Charakterstücken und Symphonischen Dichtungen zu beseitigen trachtete, der andere – Richard Wagner – die auratische Gattung der Symphonie in dem von ihm kreierten Typus des Musikdramas aufhob. Brahms erschien schon vielen Zeitgenossen als der vor allem Konservative, der an Sonate und Symphonie festhielt – wiewohl er von seinem der „Frau Clara Schumann verehrend zugeeigneten“ Opus 2 auch auf neudeutschen Kurs hätte einschwenken können (mithin den der „Fortschrittspartei“).

Welch ein Wurf, diese in Düsseldorf vorgestellte fis-Moll-Sonate, die – einige Jahre vor Wagners „Rheingold“ – ähnliches Material als wahres, reines Rheingold aufblitzen ließ! Ein Stück, das in der Tat jene „neue Bahnen“ betrat, welche der Mentor Robert Schumann attestierte. Ranküne und der Hang der Epoche zu schroffer Polarisierung trafen Brahms in besonderer Weise – und er, der sehr wohl auch auszuteilen wußte, mischte mit.

Aber die Zeiten, da sich mit Nietzsche die Brahmsschen Werke als bloß blasse Freuden mißverstehen ließen, sind ebenso vorbei wie die der ungebrochenen Bewunderung für den deutsch-revolutionären Antipoden. Auf den Märkten des Historischen gibt es keine stabilen Werte. Zuletzt verfiel zum Beispiel der Kurswert Beethovens sichtbar, Sebastian Bachs Kompositionen legten zu. Es kann also nicht noch einmal darum gehen, ob wir Brahms lieben (schon gar nicht, ob man ihn „sowieso liebt“, wie es in der Sprache des Infotainments heißt), eher müßte man fragen, was an ihm und seinem Werk zu fürchten ist. Etwa der so tief gründende Hang zum Historischen als übermächtig erscheinendem Erbe und fortdauernder, schwermütig lastender Verpflichtung; dieses Zurück zu Beethoven auch so lange nach Beethoven noch, wo sich doch zwischenzeitlich Berlioz, Chopin, Schubert und Schumann, vor allem eben Liszt und Wagner ereignet hatten!

Doch gerade das war es: nicht den Weg der Anreicherung von Musik durch Ideen und Gesten von Literatur und Theater (und damit die Auflösungstendenzen) fortzutreiben, sondern sich – in guter deutscher Handwerkstradition – auf die spezifischen Möglichkeiten der Musik zu besinnen, auf die ihr im Geschichtsprozeß zugewachsenen Optionen, auf ihr Formgesetz.

Von daher der unbändige Wille zum Durchformen, das faszinierend Konstruktive dieser Musik. Bis hin zum Verschraubten. Der Brahmssche Historismus ergriff Verschiedenstes. Er umfaßt die verehrungsvollen Anknüpfungen an Mendelssohns Scherzi, in denen allemal das Auftrumpfen lauert: Schaut her, schienen diese Adaptionen den Zeitgenossen zuzurufen, so viel tiefer läßt sich mit demselben Material schürfen! Daß darüber die einmalige Leichtigkeit, das leggiero der Feenmusiken des glücklichen Kindes aus Berlin, den Bach hinuntergingen, hat Brahms selbst gelegentlich angefochten. Überhaupt diese Schwere – dies Gravitätische, dies ungemein Deutsche!

Als gesellschaftlichen Auftrag begriff Brahms sein Engagement für Kaiser und Reich. Er bewährte sich, gegen die skeptischen Intellektuellen, trotzig auf dem Feld des Vaterländischen. Beackerte es mit seiner Begeisterung für die Reichseinigung, krönte es mit dem über Texten der Johannes-Offenbarung sich erhebenden „Triumphlied“ für Kaiser Wilhelm I. und schürfte in ihm mit Hölderlins „Schicksalslied“. Werke wie diese panzerten die „machtgeschützte Innerlichkeit“ (Thomas Mann). Der säkularisierte Protestantismus, den dieser Komponist pflegte, sorgte allerdings dafür, daß er, moderater Demokrat unterm spätfeudalen Dach, empfindlich blieb gegenüber anmaßender Kunstreligion (wie sie auf dem Grünen Hügel gestiftet wurde) und der künstlerischen Hofhaltung (wie sie auf der Altenburg im Schwange war).

Brahms, der Sohn einfacher Leute, war einer der wenigen großen Deutschen des 19. Jahrhunderts, sich dem Judenhaß nicht anschlossen. „Ganz entsetzt über die Tatsache, daß bei den offiziellen Stellen der Stadt Wien die Antisemiten die Oberhand bekommen hatten“, verwies er 1895 darauf, daß er mit seinen Befürchtungen recht behalten habe: „Jetzt ist es wahr und damit auch die Pfaffenwirtschaft. Gäbe es eine Antipfaffenpartei – das hätte noch Sinn! Aber Antisemitismus ist Wahnsinn!“

Nicht selten ein hochfahrender Ton

Hochfahrend erscheint der Ton des jungen Brahms nicht selten, hochtönend bei aller ihm innewohnenden Tiefe. Unlängst aber demonstrierte der aus Frankreich stammende Geiger Ivry Gitlis an der dritten, der d-moll-Sonate – womöglich unfreiwillig – das Schäbige, die sentimentale Prägung mancher Wendung. Richtig: Der mittlere und späte Brahms war eben auch ein Zeitgenosse Puccinis, mit dem er auf einer seiner sieben oder acht Italienreisen auch um ein Haar zusammengetroffen wäre. Vielleicht stimmt die Geschichte vom Leiermann, der in Viareggio unterm Fenster des von Brahms bezogenen Hotelzimmers eine Straßenversion des „Eiskalten Händchens“ orgelte; der deutsche Meister griff tief in die Tasche und wies den mobilen Kollegen an, vor der nicht allzufern gelegenen Villa am Massaciuccoli-See eine Walze mit „Guten Abend, gut' Nacht“ durchzudrehen. Doch nur zu bald mußte Brahms betrübt feststellen, daß vor seinem Fenster schon wieder Mimis Melodie winselte. Der Lebenskünstler Giacomo hatte einfach mehr geboten.

Mit dem Wechsel der ästhetischen Paradigmen im 20. Jahrhundert wurden die Vorwürfe hinfällig, die im heftigen musikalischen Parteienstreit des 19. an Brahms adressiert wurden: Insbesondere der, daß es Brahms' Symphonien an Einfällen mangele und sein Werk durch Zusammenhanglosigkeit und Zerfahrenheit glänze. Tiefer noch traf die Bemerkung Nietzsches, Brahms zeichne sich durch „die Melancholie des Unvermögens“ aus – er schaffe nicht aus der Fülle, sondern dürste bloß nach Fülle. Immerhin konzidierte der Philosoph, es bliebe „als sein Eigenstes die Sehnsucht“. Das – und die Fähigkeit, sich mit Musik dem Tod auf eine gar nicht gemütliche Weise zu nähern.

Philipp Spitta, Freund aus alten Tagen, resümierte, daß Brahms mit seinen Werken die „Zusammenfassung aller Formen und Ausdrucksmittel der letzten Jahrhunderte“ auf der Höhe des späten 19. Jahrhunderts – und dennoch ein jeweils ganz Eigenes – gelungen sei. In diesem Sinn rühmte ihn auch Arnold Schönberg 1933 im Essay „Brahms, der Fortschrittliche“. Daß der notorisch in die konservative Ecke Gestellte dem frühen 20. Jahrhundert als ein Wegbereiter seiner Zukunft vorkam, ist nur auf den ersten Blick paradox. Was 1883, im Todesjahr Richard Wagners, eine unüberbrückbare Kluft schien, war 1897, als Brahms starb, kein Problem mehr. Die größten Musiker jener Zeit, Mahler, Reger, Strauss, Schönberg selbst, waren unter dem Einfluß beider Meister groß geworden.

So schrumpfte das Gegensätzliche und verschwand hinter dem, was die vorangegangene musikalische Epoche einte. Brahms, der Problematische, war doppelt eingemeindet und hatte posthum Heimatrecht erhalten in beiden sich verfeindet gegenüberstehenden Lagern des politisierten Kulturlebens.