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: 80 Millionen Deutsche

In solcher Verlegenheit hatte man den Kanzler noch nicht gesehen. Zornig und beinahe stotternd wich er am Montagabend in den „Tagesthemen“ den Fragen der Moderatorin Anne Will aus

Am Ende wusste er nur noch den Ausweg, der den Super-GAU jeder Interviewsituation markiert: Er berief sich vor laufender Fernsehkamera auf Absprachen, die er vor der Aufzeichnung mit dem Sender getroffen hatte. Auf die Absprache, nur über außenpolitische Erfolge zu reden und von innenpolitischen Querelen zu schweigen.

Es hatte eine jener Gelegenheiten sein sollen, bei denen Schröder vergessen wollte. Vergessen, dass er mit der Entscheidung für Neuwahlen vor knapp fünf Wochen wahrscheinlich den schwersten Fehler seiner politischen Karriere begangen hat. Vergessen, dass ihm seither innerhalb wie außerhalb der eigenen Partei die Felle davonschwimmen. Freudestrahlend wollte er von seinem weltpolitischen Rendezvous mit US-Präsident George Bush berichten, von seinem unermüdlichen Einsatz für einen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat.

Doch unermüdlich war an diesem Abend nur die Moderatorin. Wenige Stunden zuvor hatte SPD-Fraktionschef Franz Müntefering seine Abgeordneten dazu „eingeladen“, sich bei der Vertrauensfrage am Freitag der Stimme zu enthalten. „80 Millionen Deutsche“, so Will, dürsteten zu dieser Stunde nicht nach weltpolitischen Belehrungen, sondern nach Aufklärung über die drängenden Fragen der Innenpolitik.

Schon in der Vergangenheit ist die Moderatorin, anders als ihr Kollege Ulrich Wickert, mit harter Fragetechnik aufgefallen. Den SPD-Chef Müntefering etwa brachte sie erst vor drei Wochen zu dem überraschenden Eingeständnis, seine Autorität in der Partei sei „eingeschränkt“. Peinliche Szenen wie am nordrhein-westfälischen Wahlabend, als sich ARD-Reporter Frank Plasberg von CDU-Wahlsieger Jürgen Rüttgers folgsam zur Gratulation drängen ließ, hat man mit ihr noch nicht erlebt.

Manche mögen die Art, wie Will sich zur Anwältin aller Deutschen aufschwang, als etwas dick aufgetragen empfinden. Aber das, und nichts anderes, ist der Auftrag einer öffentlich-rechtlichen Anstalt. Oder ging die Moderatorin erst bei Müntefering, dann bei Schröder nur deshalb so weit, weil die beiden ohnehin bald abtreten?

Spätestens bei der ersten Auslandsreise einer künftigen CDU-Kanzlerin Angela Merkel wird Will die Gelegenheit haben, das Gegenteil zu beweisen. Wenn Merkel zum Antrittsbesuch in Washington weilt und derweil in Berlin der Streit um die Kopfpauschale tobt. Dann ist es an Merkel, souverän zu reagieren, nicht zornig und stotternd wie Schröder. Und an Will, genauso hartnäckig zu fragen. RALPH BOLLMANN