: Die Russen sind da
POLEN GEGEN RUSSLAND Für die polnischen Ko-Gastgeber ist es das Spiel der Spiele. Das hat sportliche Gründe, vor allem aber auch politische und historische
AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER
Für den Ko-Gastgeber ist es das Spiel der Spiele: Am Dienstagabend um Viertel vor neun im Nationalstadion von Warschau, Polen gegen Russland. Nach dem 1:1 im Auftaktspiel gegen Griechenland ist diese Begegnung für Polen schon aus sportlichen Gründen immens wichtig. Politisch und historisch gesehen, ist ohnehin kein anderes Spiel dieser Fußballeuropameisterschaft so aufgeladen wie dieses.
„Die Russen sind in der Stadt“, titeln polnische Zeitungen vieldeutig. Die russischen Fans, so berichten sie, planten einen „Marsch durch Warschau“, womöglich gar mit den alten Symbolen der Sowjetmacht, mit Hammer, Sichel und Sowjetstern. Den freiheitsliebenden Polen krampft sich bei diesem Gedanken das Herz zusammen. Das Match „Russland gegen Polen“ ist mehr als ein reines Spiel. Es ist Fußballkrieg.
So ist es kein Wunder, dass die linksliberale Gazeta Wyborcza schon auf der Titelseite die polnische Nationalelf mit großen Lettern auffordert: „Haltet die Russen auf!“ Das Match werde in die Geschichte eingehen. Auf dem Spiel stehe nichts Geringeres als die „Ehre Polens“.
Nach dem unnötigen und am Ende sogar glücklichen Unentschieden gegen Griechenland geht es für die Polen bereits jetzt um alles – und das gegen einen Gegner, der spätestens seit seinem ersten Spiel (4:1 gegen Tschechien ) als klarer Favorit der Gruppe A gilt. Für den Gastgeber könnte die EM also schon nach der Vorrunde beendet sein.
Historisch hat Polen immer wieder schwer auch unter seinen östlichen Nachbarn gelitten. Im 18. Jahrhundert wurde das Königreich Polen-Litauen so lange von Preußen, Russland und dem Habsburgerreich aufgeteilt, bis es vollständig von der Landkarte Europas getilgt war. In Warschau herrscht der Statthalter des Zaren. Nur einmal, im Jahr 1920, unter Marschall Józef Pilsudski, gelang es, die Rote Armee auf ihrem Durchmarsch aufzuhalten und weit hinter die Grenzen zurückzuwerfen.
Doch schon 1939 überfielen Deutschland und die Sowjetunion das Land erneut und teilten es unter sich auf. Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte den Polen nicht die erhoffte Freiheit, sondern erneute Abhängigkeit von Moskau.
Bis 1989 lag Polen hinter dem Eisernen Vorhang, litt unter Zensur und Mangelwirtschaft – und musste sich aus dem Kreml immer wieder Lügen auf die Massenmorde von Katyn anhören. Bis heute konnte sich Russland nicht dazu durchringen, die knapp 22.000 polnischen Offiziere zu rehabilitieren, die der sowjetische Geheimdienst 1940 erschossen hatte. Ausgerechnet in Smolensk, nahe den Massengräbern von Katyn, stürzte dann auch noch vor zwei Jahren das Flugzeug mit dem damaligen Präsidenten Lech Kaczynski und hochrangigen polnischen Politikern und Beamten ab.
Damals bekundeten viele Russen Mitgefühl, brachten Blumen zur Unfallstelle und trugen sich in die Kondolenzbücher in den Botschaften und Konsulaten ein. Im russischen Fernsehen lief zur besten Sendezeit der Film „Katyn“ von Andrzej Wajda, dem Altmeister des polnischen Kinos. Die schleppende Aufklärung der Katastrophe, die Weigerung auf russischer Seite, das Wrack und die Blackbox der Unglücksmaschine herauszugeben, aber auch absurde Verschwörungstheorien der Kaczynski-Anhänger in Polen ließen den Willen, aufeinander zuzugehen und sich zu versöhnen, schnell wieder erlahmen.
Ähnlich wie die historische Bilanz fällt auch die sportliche für Polen negativ aus. Dennoch – und darauf verweisen alle polnischen Kommentatoren vor dem großen Spiel – gab es auch Siege, hin und wieder zumindest. Insgesamt spielten die Nationalmannschaften Polens und Russlands (bzw. der Sowjetunion) 17-mal gegeneinander. 9-mal verloren die Polen, 4-mal gewannen sie, und 4-mal endete das Spiel mit einem Unentschieden.
Ein besonders denkwürdiges Spiel fand 1957 im Schlesischen Stadion von Chorzów (Königshütte) statt. 400.000 polnische Fußballfans wollten das Spiel sehen, nur 100.000 kamen ins Stadion. Noch heute sind die Polen davon überzeugt, dass die von allen Fans immer wieder lautstark gesungene Hymne „Noch ist Polen nicht verloren“ einen so tiefen Eindruck bei den Sowjets hinterließ, dass auch der legendäre Torwart Lew Iwanowitsch Jaschin – damals der beste Torhüter der Welt – nicht in der Lage war, die beiden Tore von Gerard Cieslik zu halten. Am Ende gewann Polen 2:1.
1982 wiederum, in der zweiten Finalrunde der Fußballweltmeisterschaft in Spanien, trennten sich Polen und die UdSSR mit einem Unentschieden 0:0. Die Stimmung war kurz nach der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 in Polen so angespannt, dass polnische Fans im Stadion lauthals die Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land anprangerten. Vor den Grenzen Polens standen damals sowjetische Panzer. Bis heute ist nicht einwandfrei geklärt, ob die Sowjetarmee kurz vor einem Einmarsch stand oder die Panzer nur der Abschreckung dienten. Nach dem 0:0 – das Polen zum Weg ins Halbfinale genügte – weigerten sich die polnischen Fußballer nach dem Spiel, ihre Trikots mit den Sowjets zu tauschen. Am Ende wurden die von Zbigniew Boniek angeführten Polen, wie schon bei der WM 1974, Dritter.
In Warschau legte die russischen Elf am Wochenende Blumen an der Gedenktafel für die Unglücksopfer von Smolensk nieder und zeigte so ihren guten Willen. Zugleich aber verärgern die russischen Fußballfans die Polen. Heute, am Tag des Matches, wollen sie mit einem „roten Marsch“ durch Warschau ziehen und den „Tag Russlands“ feiern.
Doch Polen wird den Marsch nicht verbieten. Das Land ist heute eine Demokratie. Freiheit geht den Polen über alles. Und diese Freiheit gilt auch für die Russen. Sie dürfen an diesem Dienstag ihren nationalen Feiertag in Warschau mit einem Marsch feiern. Vorsorglich erklärte die Polizei, dass sie den Zug mit einem Großaufgebot schützen werde.
■ Der sportliche Ausblick auf Polen-Russland ➤ WM-TAZ SEITE 4