kritisch gesehen: Mit Tentakeln in die Zukunft
Ein mysteriöses Monument steht am Wochenende auf Kampnagel in Hamburg im Bühnennebel: eine große Spirale, die vorn schmaler wird. Fast wie ein Skelett sieht das aus, archaisch. Oder ist es ein Tor zu einer anderen Welt, die Luftschleuse eines Alien-Raumschiffs? Ein gebärender idealer Körper? Jedenfalls steht am Beginn des Stücks „Cosmic Bodies“, das die Hamburger Choreografin Ursina Tossi mit den fünf Tänzer*innen Anand Dhanakoti, Damini Gairola, Girish Kumar Rachappa, Lisa Rykena und Huen Tin Yeung entwickelt hat, eine Urszene, ein Übergang vom einen ins andere: Sechs nackte Körper tasten sich durch die Spirale. Sie bewegen sich, als würden sie schwerelos schweben und einen vorher unbekannten Raum erkunden.
Zeug*innen einer Verwandlung sollen wir werden, erklärt Monique Smith-McDowell dazu in Englisch aus dem Off, über Kopfhörer gibt es eine deutsche Audiodeskription. Wie die Tänzer*innen auf der Bühne sollen wir uns, geleitet von einer ausdrücklich Schwarzen Stimme, auf das Experiment einlassen, „kosmisch“ zu werden und zu erkunden, welche Potenziale in Körpern liegen, jenseits des stereotypen Bildes als weiße, männliche, heterosexuelle, souveräne und gesunde Körper.
So etwas kann schnell bemüht wirken, wie aufgeblasene Theorie, zu artsy, dann verhebt man sich am Anspruch. Aber Tossi arbeitet seit Jahren daran, Verlaufsformen körperlicher Zustände in einer queer-feministischen Perspektive zu untersuchen und hat sich ein beeindruckendes Repertoire von Bewegungsbildern erschaffen. Immer sind es ambivalente Figuren, mit denen sie die Zu- und Entschreibung von Körperbildern analysiert. „Cosmic Bodies“ beschließt eine Trilogie: „Blue Moon“ spielte mit der Figur der Werwölfin, in „Witches“ ging es um die Bedeutung der Hexe in der Körpergeschichte und ihrer widerständigen Potenziale, nun geht es übers Irdische hinaus und in die Zukunft.
In „Cosmic Bodies“ kommt dabei noch etwas hinzu: In „Fux“ machte Tossi erstmals die Zugänglichkeit für Menschen mit Sehbehinderungen zum künstlerischen Werkzeug und Audiodeskription zum Mittel. „Cosmic Bodies“ wird so nicht nur zur beeindruckend präzise getanzten Körperbild-Dekonstruktion, sondern ist auch ein dramatisch erzähltes, philosophisches Science-Fiction-Abenteuer, das mit geschlossenen Augen prima funktioniert: eine spannende Geschichte über die Suche nach einem nicht mehr menschlichen Körper, dem Tentakel wachsen und der offen wird für andere Berührungen mit dem, was ihn umgibt. Ein toller Text ist das, eindringlich untermalt von einem bezaubernd wabernden, quietschenden oder meditativ Sitar-klimpernden Soundtrack von Joachim Miethke.
Tossi und ihrem Alien-Ensemble aus sichtlich eigenständigen Tänzer*innen-Persönlichkeiten gelingen dazu eine Stunde lang eindringliche Bilder von individuellen und kollektiven Körpern. Durch all die präzise ausbuchstabierten körpersprachlichen Transformationen hindurch bleiben sie immer in der Schwebe: irgendwo zwischen Tier, Mensch und utopischem Alien, zwischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Aufbruch in die Zukunft. Robert Matthies
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