Die Nomadin Elizabeth Marsh

BIOGRAFIE Die Historikerin Linda Colley erzählt vom Leben und Reisen einer ungewöhnlichen Frau aus dem 18. Jahrhundert

Dem sesshaften Nichtstun entkommend, sticht sie 1774 erneut in See

VON EVA BERGER

Elizabeth Marsh (1735–1785) war weder reich noch gesellschaftlich bedeutend. Ihre bescheidene Herkunft steht jedoch in keinem Verhältnis zum unbescheidenen und abenteuerlichen Radius ihrer Meere, Kontinente und weibliche Konventionen durchkreuzenden Wanderungsbewegung im 18. Jahrhundert.

Geboren als Tochter einer jamaikanischen Mutter und eines britischen Schiffszimmermanns, entfaltet sich dieses Leben als ein hypermobiles Reiseunternehmen, das sich von der Karibik über Portsmouth und London, Menorca und Gibraltar bis nach Marokko und Indien erstreckt, um dabei immer wieder in den Existenz erschütternden Sog von Ereignissen und Dynamiken transkontinental-globalen Ausmaßes zu geraten und aus der Bahn geworfen zu werden. Sie wächst in der männerdominierten Welt zwischen Werftanlagen und Schiffsdecks der Royal Navy auf und siedelt 1855 mit ihrer Familie nach Menorca und Gibraltar um. Als sie von hier aus knapp 21-jährig ihre erste Seereise ohne familiäre Begleitung unternimmt, gerät sie prompt in Geiselhaft marokkanischer Korsaren.

Dadurch macht sie als eine der ersten namentlich bekannten Europäerinnen persönliche Bekanntschaft mit dem Sultan Sidi Muhammad, dessen Haremsavancen sie nur knapp entkommt. Der Gefahr sexueller Versklavung ins Auge blickend, gibt sie sich als Ehefrau des mitgefangenen Kapitäns James Crisp aus und bewahrt sich dadurch ihre körperliche Integrität. Ihrem Ruf als ehrenhafte Frau fügt das Abenteuer jedoch nachhaltigen Schaden zu, und sie sieht sich dazu gezwungen, nun tatsächlich die Ehefrau Crisps zu werden.

Damit katapultiert sie sich in die Welt internationalen Handels und Risikounternehmertums. Crisp zählt zur wachsenden Gruppe britischer Kaufleute, die sich global ausgreifend und zunehmend aggressiv außereuropäische Märkte erschließen. Sein unternehmerisches Netzwerk bricht jedoch unter dem Druck des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) zusammen. Ihr Mann tritt die Flucht nach Indien an und lässt sie mit zwei Kleinkindern in England zurück. Vor der Mittellosigkeit wird sie durch die Unterstützung ihrer Familie bewahrt.

In den 1770er-Jahren folgt Marsh ihrem Mann nach Bengalen, wo dieser geschäftig an seinem Wiederaufstieg als privater Unternehmer arbeitet. Dem sesshaften Nichtstun entkommend, sticht sie 1774 erneut in See, um von Dhaka aus die ostindische Küste gen Madras herabzusegeln. Begleitet wird die knapp vierzigjährige Ehefrau und Mutter von einem unverheirateten, jüngeren britischen Offizier. Was als „Kurreise“ beginnt, wächst sich zu einer anderthalb Jahre währenden Forschungsexpedition aus, während deren sich Marsh weit in die britischerseits ungesicherten Grenzzonen Bengalens vorwagt.

Ihrer Heldin von Schauplatz zu Schauplatz und Archiv zu Archiv folgend, beschreibt Linda Colley schlaglichtartig illuminierend die Welt der Zucker- und Sklavenplantageninsel Jamaika. Ebenso das metropolitane Handelszentrum London, das mit Europa ringende islamische Sultanat Marokko oder die Monopolansprüche der East India Company in Bengalen. Mit ihrem biografischen Zugriff bricht Colley transkontinentale Wirkungsketten, die sich mit großflächigen globalen Umbruchprozessen verbinden, quellengesättigt auf lesenswerte und lesefreundliche analytische Miniaturen herunter. Das Porträt führt in eine Zeit, in der sich weltumspannende Verflechtungen in bis dahin unbekanntem Ausmaß zu entfalten beginnen. Eine Zeit, in der sich die Kräfteverhältnisse in einer zunächst noch stark polyzentrisch strukturierten Welt zugunsten Europas, vor allem aber Großbritanniens verschieben.

Verfolgt Colley am Beispiel der Unternehmungen Crisps die ruinösen Konsequenzen, die diese kriegsgetriebene Globalisierung für eine ebenso ins Weltweite ausgreifende Ökonomie zeitigten, so führt sie in einem faszinierenden Porträt des hochagilen Familiennetzwerks Marsh gleichzeitig in die Welt ehrgeizig aufstrebender Globalisierungsakteure, die in hohem Maße vom Aufstieg Großbritanniens zu profitieren vermochten. Ohne diese Familie, die professionell in vielfältiger Weise mit dem maritimen Geschick des britischen Staats verwoben war, wäre das Nomadentum Elizabeth Marshs rein logistisch nicht möglich gewesen. Die Autorin liefert eine eindringliche Skizze der mentalen Ordnung, in der die losgelöste Welt Marshs ihren entscheidenden Ankerpunkt fand.

Linda Colley hat eine ungemein facettenreiche, methodisch überzeugende Biografie der Globalisierung vorgelegt. Als kurzweilige und kompetente Einführung sei sie jedem ans Herz gelegt, der sich für die weltgeschichtlichen Ursprünge unserer Gegenwart interessiert.

■ Linda Colley: „Leben und Schicksale der Elizabeth Marsh. Eine Frau zwischen den Welten des 18. Jahrhunderts“. Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2008. 19,90 €