: Arbeit in Starkwindzonen
Volker Lösch ist seit 2005 Hausregisseur am Stuttgarter Staatstheater. Seit seiner Goethe-Adaptation „Faust 21“ ist die Faust das Emblem des Theaters. Er hat den Schwabenstreich mit erfunden und den Bürgerchor ins Leben gerufen. Sein jüngstes Stück über die Occupy-Bewegung nach Albert Camus' „Die Gerechten“ kam am selben Tag zur Uraufführung, als in Frankfurt unter starken Einschränkungen die Proteste stattfanden. Zugleich wurde bekannt, dass Lokalpolitiker seine Berufung zum Intendanten des Leipziger Theaters verhindert hatten
von Dietrich Heißenbüttel (Interview) und Martin Storz (Fotos)
Buhrufe bei der Premiere der „Gerechten“, die Intendanz in Leipzig gescheitert: Sie sind derzeit mit einigem Gegenwind konfrontiert.
Das ist ein Grundzug meiner Arbeit. Seitdem ich arbeite, gibt es Gegenwind und Rückenwind gleichermaßen. Das ist auch das, was mich interessiert: die Starkwindzonen. Ich bin früher mal zur See gefahren, war einmal im Atlantik im Zentrum eines Orkans – das ist faszinierend: Es ist absolut windstill. Man guckt hoch, und der Himmel ist blau, und außen ist so ein schwarzer Kranz, der sich zuzieht. Man muss sehen, dass man mit dem Zentrum mitfährt. Wenn die Maschinenkraft nicht ausreicht und die Ausläufer einen überholen, wird es extrem ungemütlich. Das ist es, was Kunst im weitesten Sinne ausmacht: Sie muss Reibungen erzeugen, man muss Position beziehen, um dadurch wieder Diskurse anschieben zu können, sonst ist es uninteressant. Was mich am Anfang als Schauspieler verständnislos zurückgelassen hat: dass das Stadt- oder Staatstheater Veranstaltungen abfeiert, in denen man sich kollektiv in Ruhe lässt. Ich habe immer gedacht, das kann doch eigentlich nicht sein, auch wissend um die Dinge, die schon im Theater stattgefunden haben, zum Beispiel bei Piscator oder in Augusto Boals Forumtheater.
Sie sind in Montevideo aufgewachsen. Spielt das für Ihre Herangehensweise eine Rolle?
Ich glaube schon. Weil die sozialen Unterschiede dort sehr groß sind. Wir sind kurz vor dem Militärputsch 1973 wieder zurückgekommen, da war ich zehn. Mir fällt einfach mehr auf, wenn es in einer Stadt wie Hamburg, die zu den reichsten der Welt gehört, Tausende Kinder gibt, die nicht genug zu essen haben oder relativ verwahrlost aufwachsen. Die Wut wächst dann mit der Beschäftigung, mit den persönlichen Kontakten in den Arbeiten, darüber, dass es Möglichkeiten gäbe, das zu ändern, die Möglichkeiten aber nicht genutzt werden. Das war ein Antrieb für mich zu sagen, ich möchte die Stücke, die wir alle kennen, die zum bürgerlichen Bildungskanon gehören, anders lesen.
Sie machen kein Forumtheater. Aber Sie haben für „Nachtasyl“ von Maxim Gorki viele Gespräche mit Bürgern geführt …
Mich hat immer interessiert: Warum mache ich was, in welcher Stadt, und von welchem Interesse könnte das für die Leute sein, die dort leben? Es war für mich immer ein Prozess, erst mal kennenzulernen, was eine Stadt ausmacht, wie die Mentalität ist – deshalb finde ich es auch wichtig, zwei, drei, vier Mal hintereinander in einer Stadt arbeiten zu können. Da lernt man das lokale Umfeld kennen, auch über Publikumsgespräche, die ich recht wichtig finde. Für „Nachtasyl“ haben wir journalistisch gearbeitet und versucht, die wachsende Abstiegsangst des Mittelstandes über konkrete Biografien hier in Stuttgart zu formulieren.
Das ist etwas, was normalerweise nicht unbedingt publik wird, weil es unter der Oberfläche liegt …
Es ist wahrscheinlich das Beunruhigendste derzeit, dass diese Angst wächst – und diese Verdrängungsleistung, darüber nicht zu reden. Wahrscheinlich ist das das größte Thema in unseren Gesellschaften, weil es nach wie vor keine befriedigenden Antworten gibt, wie Leben so gestaltet werden kann, dass man es einigermaßen angstfrei im Sinne der Existenzsicherung durchleben kann. Ein erstaunlicher Punkt in einer Gesellschaft, die so reich ist. Es gibt genügend Untersuchungen über Grundeinkommen, man könnte das ja mal in Angriff nehmen und ausprobieren.
Trotzdem gibt es Leute hier, die sich nicht in ihrer Rolle als Mitgestalter in einem Stück sehen, sondern den Standpunkt vertreten, „wir wollen nur Theater sehen“, unterhalten werden.
Die stellen einen im Foyer und sind überrascht, dass man sich auf sie einlässt. Das zeigt aber auch ein Selbstbewusstsein hier in Stuttgart, das ich sehr mag – während ich in anderen Städten die Erfahrung gemacht habe, wenn solche Leute einmal den Saal verlassen haben, kommen sie nie wieder. Es gibt hier eine Lust am Diskurs, eine Lust am Streit, am Protest, am Hartnäckigsein. Das erlebe ich seit 2004 immer wieder: ein konservativer Widerstandsgeist, gepaart mit Offenheit – das ist eigentlich ideal für Kunst. Weil es einem nicht nach dem Mund redet, weil es einem nicht hinterherläuft, weil es einen begleitet. Das ist eine große Qualität der Stuttgarter Theaterbesucher. Ich kenne alle großen Städte, habe schon fast überall mal gearbeitet. Stuttgart ist einer der besten Orte für Theatermacher.
Hasko Weber hat einmal gesagt, die Leute erwarten von uns, dass wir Stücke zu Stuttgart 21 machen …
Wir haben schon mit „Faust 21“ damit angefangen, damals noch eher spielerisch und ironisch. Man hätte Stuttgart 21 aber noch mehr zum Thema machen können. Ich finde, dass unser Theater sich zu wenig positioniert hat in dieser Frage. Da wurde die Chance verpasst, eines der Zentren dieses Diskurses zu werden.
Durch die Abholzung des Schlossgartens ist das Symbol der Empörung weg – da ist nichts mehr zu machen. Wie kann man mit dieser Situation umgehen?
Abwarten und gleichzeitig den Widerstand am Leben erhalten, versuchen, sich diese Energie zu bewahren. Die Montagsdemos weiter machen. Versuchen, die Themen größer zu ziehen. Verknüpfungen mit anderen politischen Bewegungen in Deutschland herstellen und intensivieren. Es ging immer um den Bahnhof, aber es geht eigentlich um die Zukunftsgestaltung von Gesellschaft. Wie wollen wir in Zukunft leben? Wie können wir als Bürger an Politikgestaltung mehr teilhaben?
Die Schriftstellerin Anna Katharina Hahn hat über Occupy in der Kontext:Wochenzeitung gesagt: „Es macht mich froh, zu sehen, wie viele Leute auf die Straße gehen und wie stark der Wille ist, politisch zu handeln. Das halte ich für sinnvoller und wichtiger, als Bahnhöfe zu beschützen.“
Da verkennt sie, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt. Es geht darum, die Stadt vor Investoren zu schützen, die in einer kleinen Lobby auf Kosten der Gesamtbevölkerung mit Unsummen von Steuergeldern ihre ganz persönlichen Profitinteressen bedienen wollen. Occupy hat mit diesem Widerstand zu tun. Um den Grundgedanken in einem Satz zusammenzufassen: Es geht um Widerstand gegen eine bestimmte Form von ökonomischer Sicht auf Gesellschaft.
Aber der Bahnhof war ein greifbares Symbol, der Finanzkapitalismus ist ungreifbar.
Deswegen haben sie auch ohne Not den Südflügel abgerissen und die Bäume gefällt: um den Widerstand zu brechen. Aber es gibt andere Symbolorte: den Marktplatz vor dem Rathaus, wo die Montagsdemos jetzt stattfinden, das Bankenviertel in Frankfurt, das die Stadt jetzt selbst für einen Tag außer Gefecht gesetzt hat.
War das nicht hysterisch?
Wenn ich Polizeipräsident wäre, hätte ich auf die Proteste gelassener reagiert. Aber so wurde es für die Bürgerbewegung ein großer Erfolg: Das Bankenviertel wurde ganz ohne Proteste durch den Staat selber lahmgelegt!
In New York wurden 700 Leute verhaftet, weil die den Verkehr angehalten haben …
Das Interessante daran ist: Das sogenannte System reagiert eigentlich immer hysterisch. Das zeigt doch, dass man am richtigen Punkt ansetzt, weil offensichtlich die Gegenseite nervös ist. Das sind ja keine Blödmänner. Die kapieren auch, dass in absehbarer Zeit Entscheidungen getroffen werden müssen, die Weichenstellungen begründen, in Bezug auf Geschäftsausübung, auf Weiterführung des Kapitalismus. Wie geht man mit einem Planeten um, der begrenzte Ressourcen hat, dem wir aber immer noch ein Wachstumskonzept überstülpen, was natürlich langfristig nicht funktionieren kann? Wie denkt man um? Das war ja auch das zentrale Thema dieses Camus-Abends. Ist es möglich, innerhalb von Reformen so viele Veränderungen herbeizuführen, dass man den Planeten entlasten kann, oder muss man anders damit umgehen, Tabula rasa machen.
Geht es aber in den „Gerechten“ nicht eigentlich eher um Terror als Mittel der politischen Auseinandersetzung?
Oberflächlich betrachtet, ist es natürlich so. Was uns interessiert hat, geht eigentlich von dem Hauptwerk von Camus aus: Der Mensch in der Revolte. Er ist relativ schnell zum Knackpunkt gekommen: Eine Revolte kann für mich nur Sinn ergeben, wenn sie die Prinzipien, gegen die sie opponiert, nicht selbst anwendet. Wenn man wie Camus sagt, die Revolte ist ideologiefrei, kommt man sehr schnell zu dem Anarchismus, den David Graeber, der Mitbegründer von Occupy Wall Street, vertritt. Also kein Programm einsetzen, erst mal nur Orte zurückerobern in der Öffentlichkeit, an denen man als Bürger überhaupt wieder vorkommen kann.
Aber bei Camus ging es um Résistance – gegen Hitler, das ist etwas anderes als die Finanzmärkte.
Man ist aber auch einem Zwangssystem verhaftet, innerhalb dessen man als normaler Bürger nicht mehr agieren kann. Man muss trotzdem seine Miete zahlen, sein Essen einkaufen und kann nicht wirklich agieren. Es gibt auch eine Debatte, die zu dem Schluss kommt, es wird ohne Gewalt nicht mehr gehen. Wenn ich mir die Widerstandsbewegung in Spanien anschaue, in Griechenland, das geht schon ziemlich zur Sache: Sachschäden von mehreren Millionen an Gebäuden, Angriffe auch gegen Polizeieinheiten. Das ist auch ein Thema: Es geht nicht mehr darum, einen Fürsten zu töten – aber wer ist der Fürst heute, wer ist der Repräsentant des heutigen Systems? Ich finde es ganz interessant, wenn man es nicht eins zu eins umsetzt, wenn man eine Distanz hat und etwas Modellhaftes behandelt, sodass man sich daran reiben und die Differenz auch verstehen kann. Muss man radikalere Mittel anwenden? Die Mehrheit ist, zum Glück, immer noch auf der gewaltlosen Seite und versucht es mit Argumenten. Der Erfolg in Stuttgart ist der, dass so viele Menschen auf einmal argumentieren können, weil sie sich zu Spezialisten gemacht haben. Das ist ein sehr guter Prozess, finde ich. Und der hat etwas mit Gewaltfreiheit zu tun, mit nachdenken und argumentieren, sich bilden und dann auf die Straße gehen. Diese Kombination, finde ich, war recht erfolgreich, obwohl es vordergründig, nach der Volksabstimmung, erst mal nach einer Niederlage aussieht.
Was Camus mit der Occupy-Bewegung verbindet, ist auch die Figur des Guy Fawkes, der vom katholischen Attentäter in England 1605 bis zum Symbol von Anonymous und Occupy schon viele Metamorphosen durchgemacht hat. In dem Comic von 1982, aus dem das Bild der Maske stammt, ging es auch um die Frage, wie weit darf der Widerstand gegen ein totalitäres System gehen …
Das ist die große Frage, auch in der Occupy-Bewegung oder auch in Stuttgart. Wie weit kann man gehen? Ist Sitzblockade Gewalt? Darf ich einen Polizisten anrempeln, der mich schubst? Das sind Fragen, die haben sich die StuttgarterInnen vorher nie gestellt. Seit 2010 müssen sie sie sich aber stellen. Ab wann ist ziviler Ungehorsam Gewalt? Das ist eine Frage, die auch in den nächsten Jahren wichtig sein wird. All diese neuen Grenzüberschreitungen, in die der sogenannte normale Bürger involviert ist, machen das Besondere der Situation in Stuttgart aus. An Stuttgart 21 gegen die Fülle der überzeugenden Gegenargumente immer noch festzuhalten, das erleben viele als Gewalt des Staates und der Lobbyverbände. Wie die Reaktionen darauf auch in Zukunft ausfallen werden, gehört zum Spannendsten, was diese Stadt in den nächsten Jahren zu bieten hat.