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Archiv-Artikel

Morgengrauen am Bodensee

Vor zehn Jahren kollidierten über dem Bodensee ein Frachtflugzeug und eine russische Passagiermaschine mit 45 Kindern und Begleitern an Bord. Beide Maschinen stürzten ab. 71 Tote. Niemand überlebte. Die Region um Überlingen entging um Haaresbreite einer Katastrophe. Die Kollision war auf eklatante Mängel bei der Flugsicherung Skyguide in Zürich und auf missverständliche Pilotenanweisungen zurückzuführen, die zum Teil noch aktuell sind. Studien prophezeien deshalb noch heute alle elf Jahre einen Crash wie den in Überlingen. In den frühen Morgenstunden nach jener verheerenden Kollision vom 1. Juli 2002 begann für Hunderte von Rettungskräften ein grauenvoller Tag

von Meinrad Heck

Da muss doch noch irgendjemand leben.“ Sie stapften über Wiesen und durch hüfthohe Weizenfelder, vorbei an brennenden Wrackteilen. Polizisten, Sanitäter, THW-Retter, Feuerwehrmänner, Grenzschutzbeamte, jeder, der Arme und Beine hatte. Nur mit Taschenlampen in der Hand. Am stockdunklen Himmel kreisten Hubschrauber mit Suchscheinwerfern. Da muss doch noch irgendjemand leben. Aber sie fanden nur Tote in dieser Sommernacht und später, als ihnen dieser Morgen graute.

Am Tag nach dem Absturz fanden Unfallermittler in einem Waldgebiet die zweieinhalb Meter lange Spitze der senkrecht aufragenden Boeing-Heckflosse. Am Rumpf der Maschine steckte nur noch ein kleiner Stummel. Ein Stück von 3,8 Metern fehlte. Es war exakt der Rumpfdurchmesser der Tupolew. Die Boeing, so wurde rekonstruiert, war noch unter ihr durchgeflogen, aber ihre Heckflosse hatte sie in zwei Teile zerschnitten. 3,8 plus 2,5, also knapp 6,3 Meter mehr Höhenunterschied, und die Katastrophe wäre ausgeblieben.

Das Schicksal kannte keine Gnade. Das tödliche Ende über dem Bodensee blieb in letzter Konsequenz dem Zufall überlassen. Wenn zwei Flugzeuge auf gleicher Höhe im rechten Winkel mit einer Geschwindigkeit von jeweils 900 Stundenkilometer auf den gleichen Punkt zurasen, entscheidet nicht einmal ein Wimpernschlag, ob sie dort kollidieren oder sich verfehlen.

Dass es überhaupt so weit kommen konnte, lag an einem fatalen System aus Managementfehlern, Inkompetenz und Sorglosigkeit dort, wo absolute Präzision nötig gewesen wäre. Die Vorgeschichte begann mit ein paar Blättern Papier.

Der Brandbrief im eigenen Haus

Das Schreiben erreichte die Chefetage der Schweizer Flugsicherung im Januar 2002. Es kam von den eigenen Lotsen, die mit den Personaleinsparungen und den damit verbundenen Sicherheitsrisiken nicht mehr einverstanden waren. Das neue Skyguide-Projekt nannte sich seinerzeit SMOP. Die Buchstaben standen für „Single Manned Operations“ und bedeuteten nichts anderes, als dass Fluglotsen ihren jeweiligen Sektor künftig alleine zu überwachen hatten. Das sollte der privaten Skyguide Geld sparen und sei „gängige Praxis“ in anderen Ländern.

Aber ihre Lotsen gingen auf die Barrikaden. Der Tages-Anzeiger Zürich zitierte interne Briefe der Lotsen: „Die Auswirkungen sind zu ernst, als dass man sie auf die leichte Schulter nehmen könnte.“ Zwei Monate später legten die Controller gegenüber dem damaligen Skyguide-Chef Alain Rossier nach: Die Situation in Zürich sei so „desolat“, dass „wir unseren Auftrag nicht mehr erfüllen können“. Die Arbeitsbedingungen seien „unzumutbar“, es sei „nur sehr schwer vorstellbar, dass der Sommer in diesem Zustand heil zu überstehen ist“. Sie sollten recht behalten.

Drei Monate später war die Katastrophe da. Die Kollision von Überlingen hatte genau die „systemischen Ursachen“, so würden es die Unfallermittler später nennen, welche die eigenen Mitarbeiter ihrer Chefetage prophezeit hatten. Der Einmannbetrieb in einem sehr komplexen System. Ein Lotse überwachte in jener Unglücksnacht den gesamten Schweizer Luftraum und den winzigen deutschen Zipfel in der Bodenseeregion. Er musste zwischen zwei Radarschirmen hin und her hetzen, zwei Funkfrequenzen abhören. Und dann ließ ihm das Management wegen Wartungsarbeiten Teile seines Systems und seine Telefonanlage samt Reserveleitung abschalten (siehe die Chronik unter www.kontextwochenzeitung.de/newsartikel/2012/06/10/10-jahrestag-chronik-einer-katastrophe).

Der völlig überlastete Controller saß in den alles entscheidenden Sekunden vor dem falschen Radarschirm. Dort versuchte er vergeblich, einen verspäteten deutschen Ferienflieger per Telefon zum Flughafen Friedrichshafen zu lotsen. Aber die Leitung war wegen der Wartungsarbeiten tot. Was sich auf dem zweiten Radarschirm androhte, war ihm entgangen. Eine Frachtmaschine aus dem italienischen Bergamo mit Ziel Brüssel und eine Tupolew 154 der Baschkirian Airlines aus Moskau mit Ziel Barcelona flogen in 36.000 Fuß Höhe auf Kollisionskurs.

Als der Lotse die Gefahr 44 Sekunden vor dem Zusammenstoß bemerkte, war es zu spät. Eine Kettenreaktion war in Gang gesetzt worden. Zeitgleich mit seiner Anweisung an die Tupolew, „schnell“ zu sinken, war deren bordeigene Kollisionswarnung aktiviert worden und hatte exakt das Gegenteil befohlen. Die Verwirrung war komplett.

Nur „Empfehlungen“ für lebensrettendes System

Das Antikollisionssystem TCAS (Traffic Avoidance Collision System) ist die allerletzte Lebensversicherung für Piloten und Passagiere, wenn die Flugüberwachung versagen sollte, weil sie zu spät kommt. Ausweichmanöver zwischen zwei Flugzeugen werden automatisch koordiniert. Das eine sinkt, das andere steigt. Doch das rettende System funktioniert nur, wenn Piloten diesen automatisch generierten Anweisungen, und nur diesen, folgen, auch wenn Fluglotsen am Boden – wie im Fall Überlingen – das Gegenteil befehlen. Und es funktioniert nur dann, wenn dieses Procedere international verbindlich vorgeschrieben ist. Genau das war nicht der Fall. Es gab nur „Empfehlungen“.

Über dem Bodensee gehorchte der Tupolew-Kapitän in jener Nacht dem Lotsen. Das automatische TCAS befahl der Frachtmaschine zu sinken und der Tupolew zu steigen. Der Schweizer Lotse, der von dieser Automatik nichts wusste, befahl dem Russen zu sinken. Also wichen beide Flugzeuge in die gleiche Richtung aus und blieben auf Kollisionskurs. Für die Ermittler der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung in Braunschweig (BFU) war das „die unmittelbare Ursache“ der Katastrophe von Überlingen.

Bis heute beschäftigt diese Absturzursache die Fachwelt wie kaum ein zweites Flugzeugunglück. Der Einmannbetrieb in der Schweizer Flugsicherung wurde verboten. Und beim automatischen TCAS ist seit Überlingen auf internationaler Ebene aus der Empfehlung eine „Pflicht“ geworden. Aber Papier ist geduldig. Acht Beinahe-Zusammenstöße zählt die Statistik seit der Katastrophe vom Bodensee. Und immer waren es die gleichen Ursachen wie in jener Unglücksnacht. Konkurrierende Befehle von Lotsen und Antikollisionssystem, und die Piloten hörten auf die Lotsen.

Die deutsche Pilotenvereinigung Cockpit zitiert weltweite Studien mit alarmierenden Ergebnissen. Demnach werden nur 60 Prozent aller automatisch angeordneten und lebensrettenden TCAS-Ausweichmanöver überhaupt korrekt befolgt. In 20 Prozent der untersuchten Fälle war die Reaktion „zu schwach oder zu stark“, die restlichen 20 Prozent wurden „überhaupt nicht“ befolgt, publizierte die Pilotenvereinigung mitgliederintern im Juni 2011. Die gleiche Studie im Auftrag der europäischen Flugsicherung Eurocontrol errechnete daraus acht Jahre nach Überlingen das „Risiko“ eines Zusammenstoßes: Statistisch ist mit 95 Prozent Wahrscheinlichkeit „alle fünf bis elf Jahre“ mit einer Kollision zu rechnen. Die Pilotenvereinigung hält das für „nicht akzeptabel“ und drängt die Fluglinien dazu, mehr Antikollisions-Trainingseinheiten im Simulator fliegen zu lassen. Nur „einmal alle paar Jahre ist zu wenig“.

Zehn Jahre nach Überlingen sind die Ursachen von damals zwar aufgeklärt, manche von ihnen aber noch nicht vollständig behoben. Und manche Wunden sind noch nicht restlos verheilt. Der Unglückslotse von Zürich, der von einem System im Stich gelassen worden war, hat mit seinem Leben für die Fehler anderer bezahlt. Ein Familienvater aus Ufa, der bei der Kollision seine Familie verloren hatte und daran zerbrochen war, ermordete ihn zwei Jahre nach dem Unglück in einem Vorort von Zürich. Der Mann erhielt eine mehrjährige Haftstrafe und wurde nach seiner Rückkehr nach Baschkirien als Held gefeiert.

Praxisgemäß 25.000 Franken zur Genugtuung der Eltern

Vier leitende Skyguide-Mitarbeiter wurden von einem Schweizer Strafgericht zu Geld- und Freiheitsstrafen von 12 Monaten auf Bewährung verurteilt. Der frühere Skyguide-Chef blieb strafrechtlich unbehelligt und erhielt einen neuen hochdotierten Job bei einem Versicherungskonzern. Die Hinterbliebenen der Opfer wurden von der Schweizer Flugsicherung mit jeweils bis zu 36.000 Franken entschädigt. Klagen gegen diese geringe Summe wies das Bundesverwaltungsgericht in der Schweiz zurück. Die Neue Zürcher Zeitung berichtete im Februar 2010: „Laut Gericht ist für die Genugtuung an Eltern eines verstorbenen Kindes praxisgemäß von einem Grundbetrag von 25.000 Franken auszugehen, der gegebenenfalls den Umständen des Einzelfalls entsprechend zu erhöhen ist.“

Solche Summen und Zahlen kennen kein Mitgefühl. Das Schicksal ebenfalls nicht. Es hatte in Überlingen nur eine gewaltige Dimension. Die eines Wimpernschlages.

PS: Nach der Katastrophe von Überlingen hat sich 2002 der Freundeskreis Bodensee – Brücke nach Ufa gegründet. Die enge freundschaftliche Verbindung zu Angehörigen der Opfer in Baschkirien hat bis heute gehalten. www.bruecke-nach-ufa.de

Eine ausführliche Chronik der Ereignisse in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli 2002 finden Sie unter www.kontextwochenzeitung.de