Putins Krieg in der Ukraine: Mit Klassik gegen Raketen

Seit Tagen bereitet sich Kiew auf die Verteidigung der Stadt vor. Mittendrin gab das städtische Symphonieorchester ein Konzert auf dem Maidan.

Ein Musiker des Kiewer Symphonieorchesters auf dem Maidan

Spielen für Frieden: Ein Musiker des Kiewer Symphonieorchesters auf dem Platz der Unabhängigkeit Foto: Gleb Garanich/reuters

KIEW taz | Vor genau zwei Wochen begann der russische Großangriff auf die Ukraine, und die ersten Bomben fielen auf Kiew. Seitdem hat sich die ukrai­nische Hauptstadt in eine Festung verwandelt. Tag für Tag entstehen neue Verteidigungsanlagen, Barrikaden und Checkpoints, nicht nur auf den großen Straßen im Zentrum, sondern sogar in den Schlafstädten am Stadtrand.

Für den Bau wird alles genutzt, was verfügbar ist: Busse, Pkws, Betonblöcke, Sandsäcke und alle möglichen anderen Dinge, die das Vorrücken der russischen Militärfahrzeuge aufhalten können. Besonders hässlich sehen die Betonblöcke auf den städtischen Hauptstraßen aus. Es sind haargenau die gleichen, die man damals für den Bau der Berliner Mauer genutzt hat.

Dieser Anblick stärkt nicht nur das Vertrauen in die Verteidigungskraft, er schockiert auch: Niemand in Kiew möchte, dass wir diese Barrikaden wirklich brauchen. Den Kiewern war bis zu diesem Zeitpunkt nicht richtig bewusst, dass der Krieg wirklich kommen würde und dass der Kampf um ihre Stadt zum Wendepunkt in diesem russisch-ukrainischen Krieg werden könnte.

Am Mittwoch, dem 9. März, hat das hauptstädtische Symphonieorchester Kiew-Klassik, ungeachtet des Kriegs, beschlossen, ein öffentliches Konzert namens „Free Sky“ auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit, zu geben.

„Ode an die Freude“ auf dem Maidan

Damit möchten die Musiker die Forderungen der ukrainischen Regierung und der ukrainischen Bürger an die Weltgemeinschaft nach einem Schutz des ukrainischen Luftraums vor russischen Kampffliegern unterstützen.

Diejenigen Orchestermitglieder, die noch nicht in der Territorialverteidigung kämpfen beziehungsweise Kiew verlassen haben, führten bei Minusgraden und in Alltagskleidung eine Reihe von klassischen Musikstücken auf, die ihrer Meinung nach die führenden Politiker der Welt erreichen sollten. Unter anderem spielten die Musiker die ukrainische Nationalhymne sowie die Europahymne, die „Ode an die Freude“ von Ludwig van Beethoven.

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„Wir möchten, dass die Musik des Friedens, die Musik des Lebens durch unsere Aufführung die Herzen aller Menschen der freien Welt und die politischen Führer dieser Länder erreicht und ihnen hilft, eine Entscheidung zu treffen, die den ukrainischen Himmel, unter dem wir hier auftreten, sicher macht“, betont Dirigent German Makarenko.

Gerade als die letzten Töne verklungen waren, fingen die Luftschutzsirenen wieder zu heulen an, und die Musiker beeilten sich, den Maidan zu verlassen. Neben zahlreichen Journalisten, die über diese Aktion berichten wollten, waren auch Dutzende Kiewer gekommen. Junge Leute mit Ukraineflaggen, Frauen und Männer jeden Alters. Auf die Frage, warum sie weine, antwortete eine Frau, die ihre Gefühle kaum zurückhalten konnte und sich auch ihrer etwas obszönen Ausdrucksweise nicht schämte: „Warum ich weine? Weil ein Arschloch in unser Land gekommen ist und sich daran nicht satt essen kann, der Bastard. Möge die Erde unter seinen Füßen verglühen. Verrecken soll er!“

Evakuierung von 55 Kindern aus einem Kinderheim gelingt

Zur gleichen Zeit hat im Nordwesten Kiews die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus den Vorstädten Irpin, Worsel und Butscha begonnen. Erstmals seit der letzten Woche, in der heftig ­gekämpft wurde, hat die russische Seite einer Feuer­pause von 9 bis 21 Uhr zugestimmt. Die ukrai­nischen Machthaber haben Busse und Züge bereitgestellt, mit denen die Menschen nach Kiew gebracht werden sollen. Doch zu den Sammelpunkten müssen die Menschen es mit eigener Kraft schaffen, das heißt, zu Fuß, weil es für Autos auf den verminten und zerschossenen Straßen viel zu gefährlich wäre. Nicht allen gelang dies im Laufe des Tages, und auch eine vollständige Waffenruhe konnte nicht erreicht werden.

Viele, die bereits früher von dort hatten fliehen können, kontaktierten zurückgebliebene Verwandte und Freunde und informierten sie über die Evakuierung. Weil die Menschen in diesen Orten schon seit über einer Woche in den Kellern und anderen Schutzräumen sitzen und es die meiste Zeit weder Strom noch Zugang zum Internet gab, wussten viele gar nicht, dass sie evakuiert würden.

Unter denen, denen die Evakuierung gelang, waren 55 Kinder und Betreuer aus dem Kinderheim Worsel. Sie wurden sofort ins Kinderkrankenhaus in Kiew gebracht, weil man nichts über ihren gesundheitlichen Zustand wusste. An nur einem Tag konnten bis zu 1.000 Menschen aus Vororten herausgeholt werden, darunter vor allem Kinder, Frauen und alte Leute. Das waren allerdings längst nicht alle, die sich für die Evakuierung bereit gemacht hatten. Bei Einbruch der Dunkelheit berichtete die ukrainische Seite, dass noch 50 leere Busse durch russisches Militär auf halber Strecke aufgehalten würden.

Die, die es nicht heraus geschafft hatten, mussten wieder in ihre Keller zurückkehren. Dort hatten die Menschen praktisch die ganze Zeit seit Beginn der Kampfhandlungen verbracht. Ohne Heizung und Strom, bei vielen waren auch die Vorräte an Wasser, Lebensmittel und Medikamenten aufgebraucht. Besonders schwierig war die Evakuierung für Menschen mit Beeinträchtigung, die nicht mehr selbst laufen konnten und auf die Hilfe von Bekannten und anderen fürsorglichen Leuten angewiesen waren. Weil es kein Mobilfunknetz mehr gibt, können viele Menschen ihre Angehörigen schon seit über einer Woche nicht mehr erreichen und nicht herausfinden, ob sie noch leben.

Wie viel Zivilbevölkerung noch in diesen Kie­wer Vorstädten ist, ist unklar. Genauso wenig weiß man, wann es in nächster Zukunft noch einmal einen „grünen Korridor“ geben wird.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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Die Journalistin war Teilnehmerin des Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

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