berliner szenen: Alerta, alerta, antifascista!
Jeden Montagabend ziehen Menschen in großen Gruppen durch meinen Pankower Kiez. Schweigend, ohne Plakate. Sie sind wie Weihnachtsbäume mit Kerzen und Lichterketten ausstaffiert. Sie lachen und tanzen, Masken tragen sie nicht. Wofür oder wogegen sie sind, ob alle das Gleiche wollen, bleibt vage. Man läuft also quasi mit. Ohne genau zu wissen, wobei und mit wem.
Jeden Montag gibt es vor dem Rathaus Pankow auch eine Gegenkundgebung. Diese Woche haben sich Jugendliche mit einer Antifa-Fahne an der Kreuzung postiert, wo die Lichterkettenträger die Straße überqueren. Während einige junge Menschen „Alerta, alerta, antifascista“ rufen, suchen die „Spaziergänger“ auf der anderen Seite das Gespräch. Mir wird schon beim Zuhören schlecht.
Polizei ist nirgends zu sehen. Das war oft anders und fällt mir erst auf, als einer der Weihnachtsbäume eine Schülerin schlägt, die ihm angeblich im Weg steht. Gerade überlege ich, die 110 zu rufen, als sechs Wannen mit Blaulicht angerauscht kommen und vor der Gegendemo stoppen. Schnell bemerken sie ihren Fehler und fahren den Kerzenträgern hinterher.
Die Diskussion an der Kreuzung läuft derweil so: „Ick war schon links, da wart ihr noch gar nicht auf der Welt“, brüllt ein Mittfünziger. „Wer zahlt euch eigentlich?“, fragt er immer wieder und kann sich gar nicht beruhigen. Die Kids versuchen geduldig ihm ihre Beweggründe zu erklären. Verstehen tut er es nicht. „Hier sind doch gar keine Nazis. Oder seht ihr welche? Das sind doch alles ganz normale Bürger. Das sieht man doch.“ Er schnauft vor Wut.
Vielleicht ist das das Kernproblem: zu glauben, die politische Gesinnung stünde den Leuten auf der Stirn geschrieben. Und wo nicht Nazi draufsteht, kann halt nicht Nazi drin sein. Alerta, antifascista! Gaby Coldewey
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