berliner szenen: Der Mann, der ein Boxer war
Als der Spätiverkäufer mir hilft, die Bierflasche in meine Fahrradtasche zu packen, sieht er darin die roten Handschuhe. „Oh, eine Boxerin!“, ruft er. „Kickboxerin“, korrigiere ich, und er schaut mich eine Millisekunde enttäuscht an, fängt aber enthusiastisch an zu erzählen, dass er 40 Jahre lang Boxtrainer war. „Und jetzt nicht mehr?“, frage ich. „Nein, ich habe schon lange damit aufgehört“, murmelt er. Warum, möchte ich wissen, doch genau in dem Moment bestellt sich eine Frau einen Tee, und damit geht unser Gespräch zu Ende. Seitdem kann ich ihn nur so noch sehen, als wäre er immer noch auf dem Boxring und nicht hinter der Späti-Theke. Wie er draußen vor der Tür raucht, wie seine blauen Augen dabei alles aufmerksam verfolgen und wie er mit seiner Boxer-Stimme (gibt es so was?) mit irgendjemandem redet, alles passt zu der Figur, die vielleicht nur ich mir einbilde.
Der Späti liegt nicht bei mir um die Ecke, ich fahre an ihm vorbei auf dem Weg zu meinen Kickboxing-Trainings. Seit ich mich mit dem Boxer unterhalten habe, halte ich oft dort an und kaufe mir irgendwas in der Hoffnung, dass er mir seine Geschichte weitererzählt. Doch alle scheinen gern mit ihm zu quatschen: Nachbar*innen, Kund*innen und oft die BSR-Leute, die (leuchtend in ihren orangen Uniformen) ihre Kaffeepause auf dem Tisch draußen verbringen. Alleine erwische ich ihn nie.
An manchen Tagen arbeitet dort eine junge Frau, die ich für seine Tochter halte. Ich habe manchmal den Impuls, sie zu fragen: „Warum hat dein Vater mit dem Boxen aufgehört?“ Dann stelle ich mir vor, dass so was wie „Was? Welcher Vater?“ kommt, und dann traue ich mich nicht. Stattdessen bleibe ich bei unserem Smalltalk und gebe mich damit zufrieden, wenn sie jedes Mal fragt, wie es mir geht, und auf meine Nachfrage „Es muss“ antwortet. Luciana Ferrando
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