: Das Prestige des Pessimismus
APOCALYPSE NOW? Wer auf sich hält, wer beansprucht, ernst genommen zu werden, muss von Krise reden, von den untrüglichen Zeichen des Untergangs. Denn alles scheint nur noch deutbar als Scheitern, Bedrohung und unabwendbares Verhängnis. Ein Sittenbild
VON MICHAEL RUTSCHKY
Zunehmend suchen Männer in Deutschland den Schönheitschirurgen auf. Die Zahl der Behandlungen nahm um 44 Prozent zu, wobei die Männer vor allem die sogenannte Zornesfalte zwischen den Augenbrauen loswerden wollten. Aber die Zahl der Brustverkleinerungen bei Männern nahm ebenfalls zu. Die Ärzte führen es auf ungeregeltes Doping beim Amateursport zurück, dass so viele Männer an Brustwachstum leiden, dem nur operativ begegnet werden kann.
Meldungen über Zunehmen/Abnehmen erscheinen regelmäßig in den Medien. Nur vordergründig handelt es sich um Kuriosa oder gar Zeilenfüller. In Wahrheit sind es Zeichen, die auf Trends und Tendenzen im Großen hinweisen, auf tiefgreifende Erschütterungen der Gesellschaft im Ganzen.
So erkennt man rasch in der wachsenden Bereitschaft von Männern, sich die Glabellafalten beseitigen zu lassen, den wachsenden ökonomischen Druck. Keinesfalls darf der Angestellte morgens das Büro zerfurcht betreten, vielmehr ist Optimismus angesagt angesichts der Krise, eine Stirn wie eine Festungsmauer. Sie ziemt auch dem Arbeitslosen, der sich um eine neue Stelle bewirbt. Hier ist gleichfalls Optimismus gefordert, und Sorgenfalten würden stören.
Fett macht verdächtig
Die schwellende Männerbrust verknüpft sich als Zeichen mit den Meldungen über die Fettleibigkeit. Sie behindert – wie kürzlich zu lesen – zunehmend die Krankenversorgung, denn die Hospitalbetten tragen nur 150 Kilo. Im Übrigen weist eine neue Studie nach, dass Fettleibigkeit mit Verschuldung korreliert.
In der Gesamtbevölkerung sind nur zwölf Prozent adipös, unter den zahlungsunfähigen Bürgern aber 25. It’s the economy, stupid. Das Wirtschaftsleben befindet sich, die Wirtschaftsleute sagen es selber, in einer grundstürzenden Krise. Die Gefahr, dass es in einer Katastrophe untergeht, ist noch nicht gebannt, ja, unsere Kreise erkennen es auf Anhieb als das typische Blendwerk der falschen Propheten, dass angeblich Erholung sich abzeichne. Die wirklich katastrophische Krise kommt erst. Und hinter ihr baut sich die weitaus größere unseres destruktiven Naturverhältnisses auf, Ressourcenschwund, Klimawandel, Weltkriege, you name it.
Die Apokalypse ist kein grandioses Ereignis, the end of the world as we know it. Die Apokalypse ist eine Redeweise, eine Erzählformel, ein Großphantasma, das die aktuellen Zeichen anzieht und ordnet wie der Magnet die Eisenspäne. Dann deuten sie alle, von den Schönheitsoperationen der Männer bis zur Finanz- und Ressourcenkrise, auf das Ende der Zeiten, das kurz bevorstehe. Die Zeichen auf das dichteste zu verknüpfen, bis der Ablauf sich als vollkommen unabänderlich darstellt, macht den höchsten Ehrgeiz des Apokalyptikers aus – kürzlich las man in dieser Zeitung das Interview mit einem solchen und konnte sich mit ihm freuen: Selbst wenn die internationale Völkergemeinschaft jetzt alle notwendigen Gegenmaßnahmen ergriffe, nützte es nichts mehr. Es bleibt nur das tröstliche Bild der Erde, die sich selbst heilen wird, wenn die Menschheit verschwunden ist. Die Wälder weben, die Elefanten trompeten, und die Meeresbrandung schlägt an Strände, die kein Massentourismus mehr verschmutzt.
Wie die Apokalyptik in die Politik hineinströmt, ist gut erforscht. Denn wenn die große Hure Babylon mit ihren Schönheitsoperationen, ihrem Kulturverfall, ihrer Ressourcenverschwendung untergeht, dann kommt das neue Jerusalem herab. Eine andere Welt ist möglich. Das religiöse Phantasma des Weltuntergangs verwandelt sich in das politische Phantasma der Revolution. Wer das „Kommunistische Manifest“ von Marx/Engels nachliest, erkennt rasch, wie der Prophetengestus die historischen, soziologischen und ökonomischen Einsichten verschmilzt und befeuert, damit sich demnächst zwei feindliche Lager gegenüberstehen, zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat. Von alten Marxisten kann man sich erzählen lassen, wie sie einst das Phantasma der die gesellschaftliche Totalität umwälzenden Revolution ergriff – bloß dass sie stets in der Zukunft stattfindet. Jeden Tag orientiert sich die Prophetie neu an der Zukunft, die sie bewahrheiten werde, weshalb es nie dazu kommt.
Auguren & Propheten
Nun ist im Augenblick dies Phantasma der Revolution ohne große Anziehungskraft. Was aber nicht aufhört, die öffentliche Aufmerksamkeit zu fesseln, das sind die Zeichendeuter, die Auguren, die Propheten. Als Leitartikler und Leserbriefschreiber, in der großen täglichen Endlostalkshow verarbeiten sie Unmassen von Zeichen, damit sie die Krise anzeigen, die sich zur Katastrophe auswächst, bald, in nächster Zukunft. Die kommunistischen Parteiintellektuellen praktizierten innerweltliche Askese, die Frankfurter Schule mehrte ihr kritisches Bewusstsein vom universalen Schuld- und Verblendungszusammenhang als heimlichen Schatz – heute, um ein ganz vernutztes Bild zu gebrauchen, pfeifen die Spatzen die Apokalypse von den Dächern.
Vor allem in unseren Kreisen. Nächstes Jahr erzählt uns Gerhard Henschel in einem dicken Buch alles über den Kulturpessimismus, das ist die Apokalyptik, die sich ganz auf die große Hure Babylon beschränkt und aller Hoffnung auf das neue Jerusalem entsagt. Die Erzählformel ist steinalt; Geschichten vom Verfall der Sitten, der Kultur, der Macht durchziehen von früh an das römische Imperium – das dann zum Musterbeispiel des Kulturpessimismus wurde. In unseren Kreisen erfreut sich der Untergang des amerikanischen Imperiums großer Beliebtheit. Ein frankokanadischer Film mit diesem Titel beglückte 1987 unsere Kreise. Was die Zukunft wirklich brachte, war der Untergang der Sowjetunion.
Es fällt auf, dass der pessimistischen Rede auf Anhieb solches Prestige zukommt. Nur wer schwarz sieht, sieht die Dinge richtig. Die anderen Leute versetzt der entfremdete Alltag so in Halbschlaf, dass sie die Zeichen der Katastrophe ignorieren. Zu schweigen von dem reichen Angebot an Betäubungsmitteln, das im falschen Leben ununterbrochen zunimmt. Folgt eine Meldung über den wachsenden Konsum von Psychopharmaka.
Zunehmende Kinderarmut in Deutschland – und alle schauen weg. In der Tat imponiert der Pessimismus sofort als Distinktionsmerkmal; der Prophet, der Augur, der Zeichendeuter sieht etwas, das den anderen Leuten entgeht. Blindlings fahren sie fort, ihren Untergang zu betreiben – die Tradition kanonisiert diese Formel in der Gestalt von Kassandra: Sie sieht den Untergang der Stadt Troja korrekt voraus – aber die Trojaner glauben ihr nicht.
Es lohnt, hier ein bisschen zu graben. Ein Kulturwissenschaftler erklärte mir mal, dass sich das Prestige des Pessimismus vermutlich aus der antiken Temperamentslehre herleitet. Der Pessimist, das ist der Melancholiker, der unter dem Einfluss schwarzer Galle steht – die Temperamentslehre war eine Säftelehre –, und Melancholie kennzeichnet unverkennbar das Genie.
Auch heute erfreut man sich im Zustand der Depression an der schnellen, schattenlosen Klarheit seiner Einsichten in den Zustand seiner selbst und der Welt; Schluss mit der Täuschung und Selbsttäuschung. Die anderen Leute, die, wie man einst sagte, breite Masse, stellen die Phlegmatiker, die nie aus der Trägheit und dem Halbschlaf erwachen. Sie beherrscht der zähe Schleim.
Aber das schärfste Gegenbild zum melancholischen Durchblicker, das ist der Sanguiniker, vom lebendigen Blutfluss gesteuert und deshalb Optimist. Damals, als der Kulturwissenschaftler mich über diese Zusammenhänge informierte, war Helmut Kohl Bundeskanzler, den unsere Kreise als beschränkten Provinzler verachteten.
Immer wieder gewann er die Parlamentswahl und managte schließlich die Wiedervereinigung. Ronald Reagan, den unsere Kreise als gescheiterten Hollywoodstar erkannten mit seinen gefärbten Haaren und von dem wir den atomaren Erstschlag aus Senilität erwarteten, trug unterdessen den Sieg im Kalten Krieg davon; das machte in unseren Kreisen den chronischen Optimismus der Amerikaner noch verächtlicher.
Aber man möchte doch nicht einfach ins andere Lager überlaufen …
■ Michael Rutschky, 66, Autor, bloggt auf www.das-schema.com