berliner szenen: Ich bräuchte Hilfe, aber lehne sie ab
Es ist Silvester und ich steh an der Drogeriemarkt-Kasse. Ich wollte Wunderkerzen kaufen, aber vermutlich sind die verboten, denn es gibt sie in keinem Laden. Auch egal. Man hat sich ja mittlerweile an allerhand Merkwürdiges gewöhnt. Vor mit steht eine Frau im Parka, die hektisch ihre Einkäufe aufs Band legt. „Und dann brauch ich noch vier Schnelltests. Haben Sie welche?“, fragt sie die Kassiererin. „Ja, aber ich darf Ihnen nur maximal drei verkaufen“, antwortet die. Da möchte man also, dass Menschen vorsichtig sind, wir werden ermahnt und darauf hingewiesen, wie rasant sich diese Omikron-Mutante aktuell ausbreitet – aber Tests werden nur für drei Personen verkauft. Mir ist schon klar, dass es Gründe dafür gibt, es gibt ja für alles Gründe. Einige sind sogar sinnvoll. „Aber wir sind doch zu viert, Eltern und zwei Kinder, muss dann einer zu Hause bleiben?“, fragt die Frau ganz aufgeregt. Die Kassiererin sagt nichts.
„Soll ich Ihnen den vierten kaufen?“, frage ich bemüht unverbindlich. Ich mein, das ist ja nun echt keine große Sache, ich steh genau hinter ihr, wenn sie will, gibt sie mir das Geld halt wieder. Dann haben wir alle Regeln eingehalten und sie hat trotzdem, was sie braucht.
„Nein, danke, aber nett von Ihnen“, sagt die Frau. Mein Angebot ist ihr sichtbar peinlich. Während sie ihre Einkäufe verpackt, bezahle ich meine. Beim Rausgehen ärgere ich mich über mich selber. Ich hätte es einfach tun sollen. Vor lauter Angst, übergriffig zu sein, habe ich mich auf das Spiel eingelassen, das heißt: „Ich bräuchte zwar Hilfe, aber ich bitte nicht darum und ich lehne sie ab, wenn sie mir angeboten wird.“
Das beobachte ich schon länger. Und leider auch immer wieder an mir selber. Der erste Vorsatz für 2022 steht damit fest: Öfter helfen. Egal, was die anderen sagen.
Gaby Coldewey
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