taz🐾thema
: literatur & geschenke

die verlagsseiten der taz

Nicht ohne mein Notizbuch

Immer mehr Menschen nehmen wieder das Heft in die Hand: Schreiben kann das Leben strukturieren, Probleme lösen und sogar heilen. Was steckt hinter dem Journaling-Trend?

Schreiben mit der Hand trainiert das Gehirn Foto: Christina Kennedy/fStop Images/imago

Von Katja-Barbara Heine

Langsam schreiben, auch wenn die Gedanken vorauseilen. Die Buchstaben groß und rund schwingen. Und Linien auf dem Papier, falls vorhanden, geflissentlich ignorieren: Das sind Tipps, die Schreibtherapeutin Silke Heimes ihren Seminarteilnehmern gibt, wenn diese wieder einmal merken, wie eingerostet ihre Handschrift ist und dass die Finger verkrampfen, weil sie das Schreiben nicht mehr gewohnt sind. Ihre Kurse ausschließlich per Computer durchzuführen wäre dennoch keine Option: „Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass Schreiben mit der Hand das Gehirn ganzheitlicher trainiert als Tippen. Wir müssen uns stärker konzentrieren, merken uns Dinge besser und sind kreativer.“

Trotz Digitalisierung hat die Handschrift keineswegs ausgedient. Derzeit lässt sich sogar ein regelrechter Schreibboom beobachten: Viele Menschen schreiben wieder regelmäßig – statt „Tagebuch“ spricht man heute von „Journaling“ – und haben, neben dem elektronischen Notebook auch dessen Oldschool-Version aus Papier stets dabei.

Notizbuchhersteller Mole­skine konnte seinen Umsatz in den letzten zehn Jahren mehr als vervierfachen. Mit einer Neuauflage der klassischen schwarzen Kladde, wie sie schon Picasso, Hemingway oder Van Gogh genutzt haben sollen, verspricht das Mailänder Unternehmen „Raum für kontinuierliche Kreativität“ – schließlich sei die Handschrift „ein kraftvoller Akt, um das menschliche Genie freizusetzen“. Der deutsche Konkurrent Leuchtturm1917 wirbt mit dem Slogan „Denken mit der Hand“, fügte dem klassischen Notizbuch mit Lesebändchen und Verschlussgummi Seitenzahlen hinzu und brachte es in 16 verschiedenen Farben heraus. Heute werden jährlich weltweit mehr als vier Millionen Leuchtturm1917-Notizbücher verkauft.

Was man in sein Notizbuch schreibt, bleibt natürlich jedem selbst überlassen. Ansätze, wie regelmäßiges Journaling das Leben verbessern kann, gibt es viele: Das 6-Minuten-Tagebuch etwa, bei dem man täglich morgens und abends positive Gedanken notiert, zum Beispiel Dinge, für die man dankbar ist oder die gut gelungen sind. Eine weitere Journaling-Methode sind die Morgenseiten: Die amerikanische Künstlerin Julia Cameron empfiehlt, jeden Morgen ungefiltert drei Seiten vollzuschreiben und dadurch die Kreativität zu entfachen.

Ambitionierte Notizbuchhersteller haben sich mit innovativen Ansätzen der Nachhaltigkeit verschrieben:

Löschbare Notizbücher aus Stein macht das Unternehmen Moyu: Die schweren Ringbücher werden aus Schotter hergestellt – ohne Wasser oder Bleichmittel. Das Steinpapier ist wasserfest, reißfest und strapazierfähig. Der Clou: Die Schrift lässt sich abwaschen, die Seiten können wiederverwendet werden.

www.moyu-notebooks.com

Notizbücher aus recycelten Coffee-to-go-Bechern fertigt das Start-up 18Hoch2. Außerdem gibt es nachhaltige Kladden aus verschiedenen Rohstoffen wie Bananen-, Hanf- oder Zuckerrohrpapier.

www.18hoch2.de

Notizbücher aus Abfall stellt Paperwise her: Landwirtschaftliche Abfälle, die etwa bei der Ernte von Reis oder Getreide anfallen, werden zu Blöcken, Verpackungen und Kartons upgecycelt.

www.paperwise.eu

Sehr beliebt ist auch Bullet Journaling: In einem selbst gestalteten, personalisierten Kalender trägt man Termine, Aufgaben und Ziele ein, aber auch Selbstreflexion und Inspiration haben darin Platz. Dem an ADHS leidenden Erfinder Ryder Carroll gelang es damit, Klarheit und Fokus in sein eigenes Leben zu bringen. Mittlerweile hilft die Methode vielen weiteren Menschen dabei, den Überblick zu behalten.

Silke Heimes sieht in der neuen Lust am Schreiben vor allem eine Sehnsucht nach Verlässlichkeit in unsicheren Zeiten: „Schreiben ist eine Rückbesinnung auf sich selbst in einer Welt, die uns häufig überfordert. Ich. Mein Stift. Mein Buch. Das ist eine neue Schlichtheit, die Menschen heute guttut. Die ihnen zeigt: Ich bin nicht abhängig von digitalen Produkten, ich genüge mir selbst, und ich mache etwas nur für mich.“

Den aus Amerika herübergeschwappten Journaling-Trend sieht die seit drei Jahrzehnten als Schreibtherapeutin tätige Ärztin vor allem als Modeerscheinung und mit sehr gemischten Gefühlen. Mit drei positiven Gedanken am Tag oder To-do-Listen sei es nicht getan, so Heimes. „Schreiben kann so viel mehr. Ähnlich wie andere Formen der Ausdruckstherapie – etwa Tanz, Musik oder Malen – kann es bei fast allen Problemen helfen und sogar Krankheiten heilen.“ Diese Bandbreite illustrieren auch ihre neuesten Buchtitel „Ich schreibe mich gesund“ und „Ich schreibe mich schlank“. Allerdings brauche es eine tiefe Auseinandersetzung mit sich selbst, damit man seinen Gefühlen auf die Spur kommt und Erkenntnis erlangt, so die Expertin. 15 Minuten täglich sollte man mindestens mit Papier und Stift verbringen, das Schreiben sollte so selbstverständlich werden wie das Zähneputzen.

Schreiben ist Rückbesinnung auf sich selbst in einer Welt, die überfordert

Doch wie lässt sich die heilende Kraft des Schreibens eigentlich erklären? Heimes: „Zunächst einmal hilft Schreiben dabei, Ordnung in die Gedanken zu bringen, sich zu strukturieren, aufzuräumen. Es sorgt für Bewusstheit und Selbsterkenntnis: Wo stehe ich? Wie fühle ich mich? Wo möchte ich hin? Und: Ist etwas erst mal aufgeschrieben, wiegt es nicht mehr so schwer. Man hat es sich quasi von der Seele geschrieben, ist das Problem los.“ Ein ganz wichtiger Aspekt sei auch die Selbstwirksamkeit: „Ich kann mir, indem ich schreibe, selbst helfen. Ich brauche keinen Therapeuten.“

Einsteigern empfiehlt sie, einfache Halbsätze zu vervollständigen: Als ich heute Morgen erwachte, … Was mich heute belastet ist, … Als ich heute Abend nach Hause kam, … Auch Zeichnen oder Malen könne helfen – Formen wie Kreise und Dreiecke reichen dabei vollkommen aus. Viele Schreibexperten raten deshalb zu glattem Papier oder Punktraster, wie es auch Leuchtturm und Moleskine anbieten: Die dezenten hellgrauen Pünktchen bieten ein Minimum an Orientierung, lassen aber genügend Platz für individuelle Exkursionen.

Auch wenn sie durchaus Gefallen an den schönen neuen Büchern findet – Silke Heimes schreibt am liebsten in einfache Schulhefte. „Von einem edlen Notizbuch kann auch ein Druck ausgehen“, sagt sie. „Es kann uns hemmen, etwas Stammeliges, Unausgegorenes aufzuschreiben, und das kann kontraproduktiv sein.“ Ihr Tipp: Egal wie schön es ist und wie teuer es war: Notizbuch aufklappen und einfach drauflosschreiben.