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Archiv-Artikel

Das andere Live-8-Konzert

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Der Ordnungssinn der alten Städte sollte uns zu denken geben, genau wie der der alten Musik

Es ist gar nicht so schwer, seine Kinder zu ärgern. Es genügt zu sagen: Heute gehen wir ins Orgelkonzert! Natürlich muss man den Tag sorgfältig aussuchen. Der Sonnabend zum Beispiel war gut. Sonnabend, das war der Tag, als in den wichtigsten Städten der Welt diese Live-8-Konzerte stattfanden. Der Tote-Hosen-Sänger hatte Unrecht, den Regierenden Bürgermeister einen Idioten zu nennen wegen des Berliner Veranstaltungsortes. Was kann Wowereit für die Straße des 17. Juni?

Der wusste doch gar nicht, dass da überhaupt ein Konzert sein sollte, denn niemand hatte ihn eingeladen. Das Kind wusste das schon. Auch dass die Toten Hosen kommen. Egal, wenn weltgrößte Ereignisse ausgerechnet in der Straße des 17. Juni stattfinden, ist es besser, nicht da zu sein. Wir fuhren also in eine der wichtigsten Städte Brandenburgs. Nach Brandenburg. Die Stadt besitzt einen Dom, darin war das Orgelkonzert, ein richtiges Live-8-Programm. Das habe ich dem Kind gesagt, und es folgt darum hier der Bericht von dem einzigen Live-8-Konzert, das alle vergessen haben.

Die Musikstücke hießen „Die Elenden sollen essen“ (von Gottfried Homilius, 1714–1785) oder „Der Geist hilft unser Schwachheit auf“ – also ein Appell an die Regierungen, während das Stück „Rufe in die Nacht“ eher die pessimistische Variante beschreibt. In London hat Paul McCartney mit „Sergeant Peppers Lonely Hearts Club Band“ eröffnet, sehr viele Bläser braucht man da, aber gibt es bei „Sergeant Pepper“ eigentlich eine Trompete? Irgendwie hat die Rockmusik nie das richtige Verständnis für Trompeten entwickelt. Bei dem Live-8-Konzert im Brandenburger Dom gab es eine Trompete. Eine Orgel und eine Trompete. Was für ein außerordentliches Instrument ist die Trompete! Ernst Bloch musste immer weinen, wenn er in Beethovens „Fidelio“ ziemlich zum Schluss den Trompetenruf hörte, denn das klingt so, fand Bloch, als ob Utopia direkt hinter diesen Tönen aus reinem Blech anfinge. Utopia, also das, was die Live-8-Musiker wollen. Aber sie haben eben keine Trompete.

Allerdings kann die Trompete auch ganz anders klingen, nicht rufend, sondern ganz ergeben und dabei so innig, dass sie beinahe zu den Worten passt: „Nihil sum, terra caduca vale / Vermes salvete, recumbo.“ Das hat der Körnersche Gesangsverein aus Dresden gesungen, und das heißt: „Ich bin nichts. Vergängliche Erde, leb wohl! / Seid gegrüßt Würmer, ich lege mich nun nieder.“ Dieser Schluss ist vorbereitet durch die Zeilen: „Pavi corpus, alo vermes, vigilavi, dormio. Ich habe meinen Leib genährt, nun nähre ich die Würmer …“ Gut, dass das Kind das nicht verstehen konnte. Es hätte sonst gefragt, was das hier für eine perverse Veranstaltung ist, und gemeint, dass die Toten Hosen so etwas nie singen würden.

Das Konzert dauerte sehr lange, irgendwann nahmen die Blicke des Kindes den Ausdruck offener Feindseligkeit an. Und dann kam die Pause. Es gibt nur einen Ort auf der Welt, wo die Diskriminierung der Frau nicht abzuschaffen ist. Das ist die Damentoilette. Allein wenn man sich in die Schlange davor stellen muss, ist das ein so erniedrigendes Gefühl. Da hilft auch der Gedanke nicht, dass wir bestimmt bald eine Kanzlerin haben, die manche allerdings schon jetzt nur „das Merkel“ nennen. „Das Mädchen“, hatte Kohl gesagt, also „das Merkel“. Nicht schlecht, aber warum steht vor Herrentoiletten nie eine Schlange? Auch Angela Merkel wird hier nichts ändern können. Und man kann auch nicht einfach weggehen, schließlich wartet man nicht ganz grundlos hier, das schafft so ein barockes Unausweichlichkeitsgefühl. Und die Männer nebenan kommen und gehen und schauen mit einer Art ontologischen Mitleids zu uns hinüber. Es hilft auch wenig, daran zu denken, dass laut jüngster statistischer Untersuchungen kleine Männer strukturell selbstmordgefährdet sind. Die Wissenschaftler formulieren das so: Das Selbstmordrisiko sinkt mit zunehmender Körpergröße. Über die Hintergründe weiß man nicht viel. Wahrscheinlich „Diskriminierung in Beruf und Privatleben“.

Vielleicht ist es für kleine Männer auch auf der Herrentoilette nicht besonders schön, so Mann neben Mann? Vor Damentoiletten, das muss man schon sagen, ist das anders. Man bildet bald eine Schicksalsgemeinschaft, das ist ein bisschen so wie das DDR-Gefühl früher. Es schafft eine Vertraulichkeit unter Fremden, nein, FremdInnen. „Mein Gott, war das schön eben!“, sagte eine Dame in Rot und bekam spontanen Beifall der Schlange. Das ersetzt eine ganze Woche Yoga, ergänzte eine Frau von weit hinten. Alle sehen jetzt sehr gelöst aus, ganz anders als auf dem Männerklo. Aber merkwürdig ist es schon, dass diese abgründige Nun-nähre-ich-die-Würmer-Musik so tröstend auf zeitgenössische Seelen wirkt. Vielleicht, weil sie die Ordnung darin spüren. Diese strenge musikalische Hierarchie, die auch eine des Daseins ist.

Sind unsere Seelen gar immer Bürger der Vormoderne geblieben, und wir wissen das bloß nicht? Der Komponist der „Rufe in die Nacht“ ist unpassenderweise erst im letzten Jahrhundert gestorben. Er klingt so subjektiv, so zerreißend dissonant zwischen all den Ordnungsstücken. Wie Rufe in die Nacht eben sind. Ein hörbarer Unwille geht durch die Reihen. „Das hätten sie nun aber weglassen können.“ Es war die Überraschung, nicht einmal hier von der Gegenwart verschont zu werden.

Das Publikum im Orgelkonzert hat sonst genau denselben leicht debilen Wohlfühl-Gesichtsausdruck wie die Venedig-Touristen. Venedig beeindruckt ja nicht nur, weil es schwimmen kann. Es hat auch nicht diese Wucherungen der Endlichkeit. In den alten Städten wird die Unendlichkeit endlich, also anschaubar. Moderne Städte machen die Endlichkeit unendlich. Venedig musste sich damit begnügen, auf dem Festland, aber gut sichtbar, eine Skyline von hässlichen Schornsteinen aufzustellen. Als Drohung und Mahnung zugleich. Nicht einmal schöne Ampeln, und was sonst noch zu modernen Städten gehört, gibt es. Der einzige ernst zu nehmende Venedig-Modernisierer war Napoleon. Er fand es nicht gut, dass die Stadt keine breiten Boulevards hat, keine Aufmarschstraßen für siegreiche Armeen. Aber er wusste, wie man das ändert: einfach die Kanäle zuschütten, das gibt gute innerstädtische Highways. Napoleon ist mit dem Zuschütten nicht sehr weit gekommen, dabei hätte ein asphaltierter Canal Grande bestimmt sogar Stalin überzeugt.

Gibt es bei „Sergeant Pepper“ Trompeten? Die Rockmusik hat nie ein Verständnis für Trompeten entwickelt

Trotzdem sollte der Ordnungssinn der alten Städte uns zu denken geben, genau wie der der alten Musik. Vermes salvete, recumbo! In Venedig haben sie das große Krankenhaus, das Ospedale, direkt gegenüber der Friedhofsinsel gebaut. Wegen der Effizienz. So richtig von heute sind in dieser Stadt eigentlich nur die Touristen. In den letzten Wochen trugen auffällig viele Pink-Floyd-T-Shirts. Kann man toter sein als Pink Floyd? Es war also nur die Vorbereitung der Live-8-Pink-Floyd-Reunion im Hydepark. Aber was weiß die Rockmusik von Unsterblichkeit? Auch wenn „Wish you where here“ noch einmal über London wehte – das Kind kennt Pink Floyd schon nicht mehr. So ist das mit der Pop-Unsterblichkeit. Dafür kennt es jetzt den Körnerschen Gesangsverein Dresden und Leonhard Lechner (1553–1606) und „Vermes salvete, recumbo“.

Fotohinweis: Kerstin Decker lebt als Journalistin in Berlin