Jarosław Kuisz
und Karolina Wigura
Fernsicht
: Osteuropas nervöse Souveränität

Seit wann haben wir Angst? Unsere Generation wuchs in einem nach 1989 aufgebauten stabilen und sicheren Polen auf. Doch es brauchte nur wenige Tage, um unsere alten Ängste wieder erwachen zu lassen: als Putins Russland 2014 die Krim annektierte. In ganz Osteuropa war dieses Trauma präsent. Unsere Großeltern hatten davon bis zum Lebensende Albträume.

Seither hat ein nervöser Souveränitätswahn Osteuropa ergriffen. Diesen sollte man im Hinterkopf haben bei Polens aktueller Weigerung, Hilfe von Brüssel an der belarussischen Grenze anzunehmen. Was dort geschieht, ist nicht nur die Konsequenz der Anti-EU-Propaganda der polnischen Regierungsmedien. Da ist noch etwas Tieferes, das es zu verstehen gilt.

Das Schlüsselwort ist Souveränität: Bei seiner Rede vor dem EU-Parlament neulich hat Premierminister Mateusz Morawiecki das Wort dreimal in einem Satz verwendet: „Was nötig ist, ist eine souveräne Entscheidung über souveräne Entscheidungen von souveränen Mitgliedstaaten“. In einem Interview verglich er Brüssels Forderungen an Warschau mit einer „Pistole an unserer Schläfe“.

Keinen Sinn für Diplomatie oder Humor, könnte man da sagen. Aber solche Äußerungen sollten nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Sie zeigen an, wohin ost­euro­päi­sche Populisten streben und woher ihre Unterstützung kommt.

Jarosław Kuisz

Chefredakteur der Wochenzeitschrift Kultura Liberalna, ist Co-Direktor des Programms „Knowledge Bridges“ an der Universität Oxford.

Für Polen ist nationale Hoheit keine Quelle der Stabilität, sondern eines kollektiven Traumas. Seit der dritten Teilung des Staatsgebiets 1795 hat Polen mehr als 120 Jahre ohne eigenen Staat erlebt. Diese historische Angst durchwirkt noch immer sämtliche innenpolitische Konflikte. Westlichen Beobachtern mag es irrational erscheinen, wenn in polnischen Debatten Brüssel mit Moskau verglichen wird. Aber es entspricht der Gefühlslogik der PiS-­Wäh­le­r:in­nen.

Nach 1989 gab es zwei mögliche Lösungen für Polens Problem mit der Souveränität. Erstens: die Westbindung, EU und Nato. Die Polen waren wie Aeneas aus der griechischen Mythologie: Der trojanische Held verließ sein Land, um woanders eine neue Stadt zu bauen. Auch die Polen emigrierten, mental, überzeugt, dass der Westen ihnen Sicherheit, Wohlstand und bessere Werte bringen werde.

Doch Mythen enden oft paradox. In Polen mehrte die Bindung an den Westen die Kritik an diesem. Kaczyński nutzte dies und brachte geschickt die zweite, fast vergessene Antwort auf das Souveränitätsproblem ins Spiel: eine nach Vorkriegslogik geformte, souveräne Zweite Polnische Republik.

Für Polen ist nationale Hoheit Folge eines kollektiven Traumas

Die Zweite Republik zur Blaupause zu machen, ist allerdings folgenreich – wurde sie doch nach einem Staatsstreich 1926 autoritär. Für Kaczyński kann Souveränität also über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stehen: Eine Werte-Entscheidung. Verteidiger der liberalen Demokratie, die für „mehr Europa“ sind, teilen dieselben Traumata. Doch ihre Werte-Entscheidung fällt anders aus.

Die Idee der Souveränität ist zurück – überall in Europa. Kaczyński, Orbán, Zemmour, jeder von ihnen spricht einen anderen kulturellen Kern an, doch das Ergebnis ist immer gleich: Die Stärkung eines „Europa der Vaterländer“ statt eines geeinten Europa. Wie lässt sich diesem Dilemma begegnen? Vielleicht hilft eine Erinnerung an Aeneas: Er konnte schließlich seine Stadt bauen, doch der Weg dorthin war steinig. Die Europäer haben verschiedene nationale Traumata, aber auch gemeinsame Mythen, über die Bedeutung von Geduld und Mut für ehrgeizige Vorhaben.

Karolina Wigura

ist Co-Direk­torin des Programms „Knowledge Bridges” am Institut für Soziologie der Universität Warschau.

Aus dem Englischen: Nina Apin