: Im Möglichkeitsraum
ZUKUNFTSTHEATER Wenn alles zusammenkracht – die Gruppe Müller***** übt in den Sophiensælen „Utopisch denken“
VON SONJA VOGEL
„Wir müssen etwas ändern!“, ruft der Mann dem Publikum zu. Sein Appell verhallt im Hochzeitssaal der Sophiensæle. Der Bühnenraum ist so hell ausgeleuchtet, dass es in die Augen sticht. In der Raummitte aufgereiht stehen die SchauspielerInnen Corinne Maier, Veit Merkle, Elisa Müller und Frank Sievers und fixieren die ZuschauerInnen, nicht unangenehm, aber doch eindringlich.
„Utopisch denken“ heißt das Stück der Gruppe Müller*****, die seit 2008 unter der Leitung von Schauspielerin Elisa Müller in wechselnden Konstellationen Stücke entwickelt. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, in einer Art Bühnenlabor das utopische Denken zu erforschen.
Nach langem Schweigen tritt Elisa Müller vor mit dem Satz: „Ich finde, das geht so nicht.“ Es ginge nicht, dass die Öffentlichkeit neue Impulse abwehre. Sie nennt die Debatte über die Piraten-Partei, der vorgehalten würde, sie habe keine Inhalte, obwohl genau das deren Inhalt sei. „Ich finde, es geht nicht, dass im öffentlichen Diskurs immer gesagt wird: Es geht nicht.“ Die dritte Schauspielerin tritt vor. Corinne Maier stellt die Frage nach den Grenzen von politischer Bühnenkunst. Wenn sie nun eine explizit politische Meinung vertrete, werde dann die Bühne zur politischen Arena? „Nee“, antwortet Maier. „Ich ernte keinen Widerstand, sondern höchstens ein zustimmendes Nicken.“
Immer wieder schicken die DarstellerInnen vergewissernde Blicke ins Publikum, fast wie Kinder, die Anerkennung zu erheischen versuchen. Es wirkt. Das Publikum fühlt sich betroffen. Dennoch nervt das Versprechen, das Publikum partizipiere ganz gewaltig. Etwa, wenn die SchauspielerInnen sich in der unüblichen Nutzung von Alltagsgegenständen üben – ein Wäscheständer dient als Tisch oder Bett, auf einem Klappstuhl kann man bequem falsch herum sitzen. Und jeder neuen Nutzung folgt der lange Blick in die Runde. Viel zu plakativ.
Zwar ist die Vorstellung von etwas anderem im Gegebenen, also, dass etwas sein kann, essenziell für das utopische Denken. „Bereits dass ein Kannsein gesagt oder gedacht werden kann, ist keinesfalls selbstverständlich. Da ist noch etwas offen, kann anders als bisher gemeint werden, kann in Maßen umgestellt, anders verbunden, verändert werden“, heißt es bei Ernst Bloch in „Das Prinzip Hoffnung“. Doch ist Utopie nur eine tagträumerische Fantasie? Hier stößt das Theater an seine Grenzen. „Das Theater ändert das System nicht“, sagt Veit Merkle. Und noch einmal: „Hier wird nichts geändert!“ Trotzdem könne die Bühne ein Möglichkeitsraum werden, in dem widerstreitende Positionen verhandelt würden. Die SchauspielerInnen reden darüber, wie das Gesprochene Konsequenzen haben kann.
„Ich stelle mir vor“, versucht Frank Sievers seine Utopie zu konkretisieren, „wir lassen morgen einfach alles zusammenkrachen.“ Die Wirtschaft. Das Wachstumsdiktum. Die Börse. Für die Idee wirbt er. „Ich möchte Dinge reparieren“, kontert Veit Merkle. Vielleicht könne man mit der Halbierung des Wirtschaftswachstums beginnen? „Gewisse Dinge sollte man abschaffen“, formuliert Corinne Maier ihre Utopie – zum Beispiel den Bundespräsidenten. Maier stellt das Familienmonopol infrage und plädiert dafür, Kinder in größeren Zusammenhängen großzuziehen.
Dann wird es noch konkreter. 3.000 Euro als Einheitseinkommen für alle im Monat stehen zur Debatte, das Publikum ist gefragt. „Brutto oder netto?“ ist die erste Wortmeldung. Dann brandet eine Debatte los, die die SchauspielerInnen kaum mehr in den Griff bekommen. Doch das Verlangen der ZuschauerInnen nach einer Utopie wird von den DarstellerInnen nicht erhört, sie prüfen den Einheitslohn weiter auf seine Umsetzbarkeit.
„Erst mal eine Facebook-Seite machen!“, ruft Elisa Müller. Dann wieder ein Schnitt. „Gleichzeitig ist klar, dass wir das nicht machen werden“, fällt Sievers in seine Rolle zurück. „Muss ich jetzt aktiv werden?“, fragt er. „Jawohl!“ – „Ja!“ – „Wir alle!“, muckt das Publikum auf. Dann ist das Stück zu Ende. Müller***** verlassen die Bühne. Elisa Müller schickt noch ein versöhnliches „Im Foyer wird weiter diskutiert!“ ins Publikum. „Fußball!“, kommt prompt die Forderung zurück.
■ „Utopisch denken“ wieder am 26., 28. und 29. Juni in den Sophiensælen