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Gymnastik der Erinnerung

Angst vor der Zukunft? Das war auch vor beinahe vierzig Jahren virulent, wie Gob Squad in „1984, Back to No Future“ im HAU 3 zeigen

Von Katrin Bettina Müller

Man kann nie wissen, wie er wird, ein Abend von Gob Squad. Nicht nur weil das britisch-deutsche Performance-Kollektiv nicht jeden Abend in gleicher Besetzung spielt, sondern weil tatsächlich Raum für die Improvisation offen bleibt.

Das war großartig bei der letzten Begegnung, obwohl sie nur per Zoom am Bildschirm stattfand: Als sie, eingeladen zum Theatertreffen mit „show me a good time“, 12 Stunden lang aus verschiedenen Orten in Berlin und Great Britain streamten, wo die Künst­le­r:in­nen einzeln gegen die Isolation der Pandemie kämpften, Theatergeschichte durchquerten, von Trauer erzählten und von der Suche nach dem, was Kunst und Theater denn in der Gegenwart überhaupt noch leisten können. Das Biografische und das Gesellschaftliche, das Private und das Politische kamen da in vielen Fitzeln zusammen – und waren auch noch lustig.

Im HAU 3 läuft jetzt ihr Stück „1984, Back to No Future“, mit vier Performenden auf der Bühne, aber nicht jeden Abend dieselben. Es gibt also Varianten des Abends, denn das Jahr 1984, in das sie zurückreisen, wird von jedem mit persönlichen Erinnerungen ausgemalt.

Damian Rebgetz war da noch ein Kind in Australien, der als Weißer auf einer Insel mit überwiegend indigener Bevölkerung aufwuchs. Sarah Thom tauchte in England in eine feministische Szene ein und glaubte an die Macht der Veränderung, wenn sie vor Greenham Common an Protesten gegen Atomwaffen teilnahm.

Sharon Smith tanzt zu Michael Jackson, seine Poster dominierten ihr Zimmer, sie genoss es – aber nicht mehr die Erinnerung daran. Berit Stumpf erschrickt darüber, wie sie zu dieser Zeit als Teenager vor allem mit sich selbst beschäftigt war. Und sie erklärt, wie es aus ostdeutscher Perspektive zur Haltung „No Future“ kam: Weil der Staat die Perspektive Zukunft schon mit allen Mitteln besetzt hielt. Während sie erzählen und ihre Erinnerungen ausmalen, sieht man Fotos aus ihren Kinder- und Jugendtagen, die sich langsam in ihre Gesichter aus der Gegenwart verwandeln.

Das hat Charme, füllt aber noch keinen Abend. Eine/r der vier mimt jeweils, den Kopf auf einer Leinwand vergrößert, den Big Brother (George Orwells „1984“ lässt grüßen), den Spielleiter, stellt den anderen Aufgaben und Fragen. Sie müssen laufen, „wovor ranntet ihr weg, wo wolltet ihr hin“. Sie sollen sich schütteln, „was wolltet ihr loswerden“. Sie müssen mit den Armen in die Luft greifen, „was waren eure Ziele“. Und die Kommentare der Spielleitung sind, weil sie ja die Zukunft schon kennt und weiß, wie viel von der Power des Aufbruchs sich zerrieben hat, oft zynisch.

Inhaltlich sind die Szenen interessant, die an die Angst vor einem Atomkrieg erinnern, aus einer Broschüre zitieren, wie man sich einen Bunker baut und einrichtet. Die Videoanimationen dazu, mit Avataren in einem geschlossenen Raum, sind visuell dagegen eher langweilig und verschenkte Zeit.

Ganz am Anfang diskutieren die vier, warum überhaupt eine Zeitreise zurück, ist das nicht nur nostalgische Flucht aus einer Gegenwart, die ihre Zukunft fürchtet?

Aber dann zeigt es sich eben, dass Zukunftsangst auch die Zeit vor beinahe vierzig Jahren bestimmte; aber auch Protest­bewegungen und Widerstand sich formierten. Doch am Ende fehlt dem Stück, Gegenwart und Vergangenheit mehr miteinander ins Verhältnis zu setzen. Stattdessen gilt das letzte Bild einer Flucht in den virtuellen Raum.

Vor knapp zehn Jahren haben Gob Squad zusammen mit sehr jungen Dar­stel­le­r:in­nen aus dem Campo Theater ein Stück darüber gemacht, wie sich Kinder und Jugendliche ihr Leben als Erwachsene vorstellen, „Before your very eyes“. Es war bestürzend, was die Kinder schon an Enttäuschungen voraussehen, mit welchem Pessimismus sie ausmalten, wo sie in vierzig Jahren wären. Das ging mehr unter die Haut.

Wieder am 4./5./6. November, jeweils 20 Uhr, im HAU 3. In englischer Sprache

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