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Kreiselnde Assoziationen

Der 29. Open Mike Wettbewerb machte im Heimathafen Neukölln die Bühne frei für vielversprechenden Literaturnachwuchs

Auf der Bühne im Heimathafen Neukölln: die Autorin Eva-Maria Dütsch Foto: Dagmar Morath

Von Susanne Messmer

Der Effekt ist wirklich toll. Eine schöne, junge Frau mit sehr glänzenden Ohrringen betritt die Bühne, setzt sich an einen Tisch und beginnt langsam, sorgfältig und mit glockenheller Stimme vorzutragen. Doch der Text, den die 1997 in Zürich geborene Autorin Eva-Maria Dütsch liest, ist so gar nicht glockenhell, sondern wirkt vor allem erst einmal dunkel und ungezähmt. Zu Beginn ist kaum zu verstehen, wer spricht oder was eigentlich erzählt wird. Erst im Laufe des Textes wird es etwas greifbarer: Hier ist vermutlich von einer alten Dame die Rede. Sie scheint sich immer wieder an die Gleise einer U-Bahn zu verirren. Dann ist sie wohl ein paar Tage im Krankenhaus, bevor sie dort wieder entwischt. Irgendwie ist ihr mit der Erinnerung auch die Sprache entglitten, aber ist sie verwirrt? Dement? Verrückt? Oder einfach nur, wie sie selbst in ihrem inneren Monolog vermutet, ungeübt?

Eva-Maria Dütschs Text „Urin und Blütenhonig“ ist spektakulär und wimmelt nur so vor Körperlichkeit, kreiselnden Assoziationen, monströsen Wortbildern. Sie hat einen Text geschrieben, für den allein es sich mal wieder lohnte, am Wochenende auf dem 29. Open Mike im Heimathafen Neukölln zuzuhören, dem „größten Betriebsausflug des Literaturbetriebs nach der Frankfurter Buchmesse“, wie ein Kollege es einmal auf den Punkt gebracht hat.

Das Prinzip dieses jährlichen Wettbewerbs der Literatur, den das Haus für Poesie ausrichtet, ist so einfach wie einleuchtend: Jede*r, die oder der jünger ist als 35 Jahre und noch kein Buch veröffentlicht hat, kann sich bewerben. Aus den Hunderten anonymisierten Einsendungen sucht eine Vorjury um die 20 Au­to­r*in­nen heraus, die verteilt auf zwei Tage jeweils eine Viertelstunde lesen. Am Ende kürt eine andere Jury drei Gewinner*innen, die je 2.500 Preisgeld erhalten. Einer der Preise ist für Lyrik reserviert. Außerdem gibt es einen Publikumspreis, die oder der Ge­win­ne­r*in wird mit einem Abdruck des Textes in der taz belohnt.

Der Vorteil dieses anonymisierten Verfahrens ist, dass der sonst eher undurchlässige Literaturbetrieb, bei dem es, wenn man veröffentlichen will, schwer darauf ankommt, dass man Menschen kennt, die Menschen kennen, ein wenig aufgebrochen wird. Der Nachteil dieses Vorgehens, der allerdings noch nicht ausdiskutiert ist: Die Vorjury kann die Auswahl der Au­to­r*in­nen nicht nach Geschlecht, sozialem oder kulturellem Hintergrund sortieren. So kann es wie in diesem Jahr sein, dass sämtliche Au­to­ri*n­nen studiert haben, außer zwei „Exot*innen“ alle irgendwas mit Literatur oder Geisteswissenschaften. Auch sind wenige dabei, die einen Namen haben, der nicht deutsch klingt – auch wenn beides vielleicht gar nicht so viel zu sagen hat. Die Vorjury kann also ausschließlich auf Diversität in den Texten achten. Diesen Job, das muss man betonen, hat sie dieses Jahr allerdings ziemlich gut gemacht.

Der Kulturbetrieb bereitet sich auf einen langen, einsamen Winter vor

Denn brav oder bürgerlich oder gar nichts sagend ist eigentlich kaum einer der Texte. Einer lässt eine junge Frau von sexuellem Missbrauch erzählen, eine andere berichtet von der Tochter einer alleinerziehenden Frau aus Ungarn, die im Sommer mit ihrer Tochter im Hochhaus am Stadtrand Urlaub spielt. Einer berichtet von einer Arbeiterfamilie, einer von seltsamen Begegnungen in einer Neuro-Reha mit Menschen aus anderen Universen.

Ein weiterer Text, der ziemlich stark ist und ebenfalls gekürt wurde, stammt von Kathrin Vieregge und heißt „Cui bono“. In diesem berichtet eine Erzählerin fein beobachtend von einem P., vielleicht dem Vater, der nach und nach das Vertrauen in alles verliert, worauf sich die anderen im Alltag verständigt haben. Irgendwann glaubt P. nicht einmal mehr, dass die Erde rund ist. Die Erzählerin lässt Verzweiflung durchscheinen, wünscht sich sogar, der von P. so oft beschworene Tag X käme eines Tages wirklich, „damit das alles nicht umsonst war“. Eine brillante Analyse vor allem jetzt, da die Querdenker bald wieder anfangen dürften, auf die Straße zu gehen.

Apropos Corona: Im letzten Jahr konnte der Open Mike nur online stattfinden, viele der Menschen, die an diesem Wochenende in den Heimathafen gekommen sind, wirken vielleicht auch deshalb ungewöhnlich dankbar und nett zueinander, klatschen nach jeder Lesung, als sei es die letzte für lange Zeit, und verabschieden sich auch mal mit den Worten: Wir sehen uns im Frühjahr! Der Kulturbetrieb bereitet sich auf einen langen, einsamen Winter vor.

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