Osman Engin Die Coronachroniken: Die Herden-Immunität
Von dem neuen Lockdown bin ich nicht ganz so begeistert wie von dem ersten. Nicht mal die ganzen Cafés, Restaurants und Kinos sind dicht – erst recht nicht meine Halle 4! Trotz Corona darf ich ständig schuften – inklusive Überstunden. Die Theaterhäuser sind praktisch geschlossen, dafür findet das ganze Theater jetzt woanders statt.
Zum Beispiel in Bussen und Bahnen. Jedes Mal, wenn ich zur Arbeit und wieder zurückfahre, nehme ich unfreiwillig an einem staatlichen Experiment teil, weil die Regierung jetzt die Corona-Pandemie mit Herdenimmunität zu bekämpfen versucht.
Die öffentlichen Verkehrsmittel sind immer proppenvoll. Die Menschen stehen dicht an dicht, Nase an Nase. Nicht mal die fünf großen Knoblauchknollen, die ich täglich prophylaktisch gegen Corona verzehre, bringen es fertig, mir die Menschenmassen vom Leibe zu halten.
Ganz im Gegenteil! Gestern zur Stoßzeit, bei dem großen Gedränge im Bus, habe ich sogar mit dem hässlichen Kerl, der mir die ganze Zeit auf die Hühneraugen trat, meinen Mundschutz vertauscht! Meine Frau meinte daraufhin ziemlich amüsiert:
„Du hattest Glück im Unglück. Ohne die Maske vor dem Mund, hättest du wohl deine dritten Zähne getauscht. Und das wäre uns viel teurer gekommen.“
„Osman, du bist doch selbst schuld an deinem Elend“, meint mein Arbeitskollege Hasan, nachdem ich in der Mittagspause meinem Ärger über die überfüllten Corona-Busse Luft mache.
„Warum das denn? Die Herdenimmunität ist doch nicht meine Idee“, schimpfe ich.
„Weißt du, was ich immer tue, wenn die Leute mir im Bus zu sehr auf die Pelle rücken? Ich sage `Leute, bitte haltet Abstand. Ich bin gerade Corona-positiv getestet worden. Ich bin Superspreader!´“
„Wirklich? Dann bricht sicherlich das totale Chaos aus, oder?“, frage ich neugierig.
„Ja. Die Hälfte der Menschen rennen blitzschnell nach hinten, die andere Hälfte springt sofort raus. Aber das wichtigste ist: ich werde auf der Stelle in Ruhe gelassen.“
„Hasan, das ist ja eine tolle Idee! Warum bin ich denn die ganze Zeit nicht darauf gekommen?“, rufe ich begeistert.
„Tja, ich bin ja nicht umsonst dein Vorarbeiter geworden“, lacht der Angeber selbstgefällig.
Gleich auf dem Nachhauseweg probiere ich bei dem Gewusel Hasans Idee aus und brülle lautstark in den Bus:
„Leute, haltet bitte Abstand! Ich bin soeben Corona-positiv getestet worden! Ich bin Superspreader!“
Die Hälfte der Menschen rennen blitzschnell nach hinten, die andere Hälfte wirft mich hochkantig aus dem Bus.
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