: Information als Waffe der kleinen Leute
In Indien wehren sich Slumbewohner mithilfe eines neuen Informationsgesetzes gegen Korruption in der Verwaltung
DELHI taz ■ Da Delhis Abwasserkanäle als Müllgruben zweckentfremdet werden, überschwemmt angestautes Wasser oft die angrenzenden Slums. Im Stadtteil Sheikh Sarai sprachen die Bewohner eines solchen Slums deshalb mehrmals bei der Gemeindeverwaltung vor, da ein Wehr mit einer kleinen Öffnung Abfälle zurückhielt und der stinkende Rückstau oft in ihre Hütten drang. Meist geschah nichts, die Stadt argumentierte, es handle sich um illegale Siedlungen.
Als kürzlich wieder eine Überschwemmung drohte, schaltete sich eine Nichtregierungsorganisation (NGO) ein. Innerhalb weniger Tage kamen Ingenieure der Stadt vorbei, die Öffnung im Wehr wurde verbreitert, neue Kanäle ausgehoben. Die NGO hatte das neue Gesetz „Recht zur Information“ genutzt, um bei der Gemeinde Daten einzusehen: Wann war der Kanal zuletzt gereinigt worden, welcher Beamte verantwortlich, wie viel Geld wurde dafür ausgegeben?
Den Akten zufolge war seit einem Jahr nichts geschehen. Die Freigabe der Information sprach sich unter den Beamten rasch herum und die Arbeiter waren sofort zur Stelle. Erstmals erlebten Slumbewohner, dass Arme öffentliche Dienstleistungen einfordern und überprüfen können, ob öffentliche Gelder für den deklarierten Zweck ausgegeben werden oder in den Taschen der Beamten verschwinden.
In einem zweiten Fall im gleichen Viertel wurde eine Straße über Nacht geteert, nachdem entsprechende Dokumente angefordert worden waren. Diese zeigten, dass die Teerung schon vor drei Jahren hätte erfolgen müssen, da die Gelder dafür damals ausbezahlt worden waren.
Das neue Gesetz über Informationsfreiheit erlaubt jedem Bürger, offizielle Dokumente einzusehen, zu kopieren und attestieren zu lassen. Falls die Information nicht innerhalb von 30 Tagen freigegeben wird, kann jeder beim neuen Informationskommissar klagen. Dieser kann den zuständigen Beamten für jeden weiteren Tag Verzögerung mit 250 Rupien bestrafen, dem Dreifachen des offiziellen Mindesttageslohns. Beamten, die Daten zerstören oder manipulieren, droht Entlassung.
Unter Information wird dabei „Material in jeglicher Form“ verstanden, womit auch Materialproben zugelassen sind, um etwa Pfusch bei öffentlichen Aufträgen nachzuweisen.
Das neue landesweite Gesetz ersetzt den „Freedom of Information Act“ von 2002, der voller Schlupflöcher war. So fehlten Sanktionsmöglichkeiten und die staatlichen Ordnungs- und Sicherheitsdienste waren gar von jeder Informationspflicht befreit. Diese Befreiung enthält auch das neue Gesetz, jedoch mit Ausnahme des Verdachts auf Korruption und Menschenrechtsverletzungen.
Das Gesetz ist Resultat einer Volksbewegung, die 1994 in Rajasthan begann. Auslöser waren Unregelmäßigkeiten bei Straßenbauprojekten zur Arbeitsbeschaffung für Hungernde. Jedes Jahr fließen Milliarden Rupien in solche Programme. Der Ökonom Kirit Parikh schätzt, dass nur 16 Prozent davon bei der Zielgruppe ankommen.
Initiiert von der NGO-Aktivistin Aruna Roy, begann die Bewegung im Dorf Kot Kirana, wo nur die Hälfte der Steinklopferinnen bezahlt wurde und der Rest lediglich die Hälfte des Lohns erhielt. Da die Beamten sich bei der Auszahlung auf die Arbeitslisten beriefen, diese aber nicht zur Einsicht herausrücken wollten, konnten die Frauen das Unrecht nicht nachweisen. So entschlossen sie sich, mit Hilfe von Roys NGO MKSS zum Sitzstreik. Als dieser weiter anschwoll, zwang der Bezirkschef den zuständigen Beamten zur Herausgabe der Arbeitsliste. Darin fehlten viele Namen von Arbeiterinnen oder waren mit weit niedrigeren Leistungen eingetragen. Weitere Proteste in Dörfern und größeren Städten waren die Folge.
Je mehr Dokumente vorlagen, desto mehr zeigte sich Betrug – etwa, als bei einem Sitzstreik die angeblich getätigten Ausgaben für ein Dorfzentrum auf dem Platz, wo das nie gebaute Zentrum hätte entstehen sollen, verlesen wurde. So sah sich Rajasthans Regierung gezwungen, den Zugang zu Lohnlisten, Ausschreibungen und Belegen zu gestatten.
Im nächsten Wahlkampf versprach die Opposition ein entsprechendes Gesetz, das sie nach ihrem Sieg umsetzen musste. Dem „Right to Information Act“ in Rajasthan folgten weitere Bundesstaaten, in denen MKSS oder andere NGOs aktiv geworden waren. Mit dem neuen Bundesgesetz haben nun jede Steinklopferin in jedem indischen Dorf und jeder Slumbewohner in Delhi das Recht, über die Ausgabe öffentlicher Gelder Rechenschaft einzufordern.
BERNARD IMHASLY