: Tableaus vom Leben, sich Wehren und Untergehen
Das Drinnen und das Draußen der Gesellschaft: „Outside“ von Kirill Serebrennikov an der Berliner Schaubühne zum Auftakt des Festival F.I.N.D.
Von Tom Mustroph
Was ist das Leben? So könnte man den Theaterabend „Outside“ von Kirill Serebrennikov beim 20. Festival Internationale Neue Dramatik, kurz F.I.N.D., an der Schaubühne auch überschreiben. Der Abend umkreist in mehreren Suchbewegungen die Frage danach, was es bedeutet zu leben – nicht auf der Ebene eines Selbstfindungsworkshops gedacht, sondern im Sinne von sich auszudrücken und sich zu finden.
Der Moskauer Regisseur entfaltet ein Großtableau aus drei Teilen. Das erste zeigt einen Menschen, einsam, eingesperrt in einem Zimmer. Man sieht ihn am Fensterkreuz. Er wirkt dort angeschlagen wie eine Christusfigur, der allerdings die Häscher wie die Jünger abhanden gekommen sind. Er ist ein potentieller Selbstmörder. Vom Springen aus dem Fenster wird er nur von seinem Schatten abgehalten, einer schwarz gekleideten und am Boden die Bewegungen spiegelnden Figur.
Bis dahin ist der Ort des Geschehens nicht gesetzt. Wo gibt es nicht Einsamkeit, Depression und Todessehnsucht? Die Szene muss aber in Russland spielen, denn mit einem Mal klopft es an der Tür, und eine Horde uniformierter und maskierter Gestalten stürmt herein. Sie stellen sich selbst als Angehörige des FSB vor, des russischen Geheimdiensts.
Die Szene ruft das Schicksal des Regisseurs in Erinnerung. Serebrennikov war eingesperrt, unter Hausarrest gestellt, er musste Razzien und Verhöre über sich ergehen lassen. In feiner Kenntnis des Alltags seiner staatlichen Antagonisten lässt der Regisseur eine FSB-Agentin während des Verhörs mit ihrem Kind telefonieren und über Essen auf dem Tisch und Hausarbeiten schwadronieren. Selbst Folterer können besorgte Familienmenschen sein, man kennt das im Allgemeinen. Wie stark die autobiografischen Züge in Szenen wie dieser im Besonderen sind, mag man ahnen. Serebrennikov befand sich während der Proben in Hausarrest und steuerte die Arbeit aus der Ferne.
In fantastischer Überhöhung dreht sich auf der Bühne aber sodann das Spiel. Das Opfer maßt sich Macht an, lässt zwei seiner Peiniger deren jeweils klitzekleinen Penis hervorholen und demütigt sie als Versager auf sexuellem und pornografischen Feld.
Danach ändert sich das Bild. Odin Lund Biron, der Darsteller des einsamen Russen, wird zum Kommentator und begleitenden Sänger. Herr des Geschehens wird Evgeniy Sangadzhiev. Er schlüpft in die Figur des Pekinger Fotografen Ren Hang. Der fiel durch seine Fotos mit erotischen Fantasien auf. Nackte Menschenkörper sah man dort Pyramiden aus ihren Leibern bauen. Pflanzen und Blumen schienen aus Körperöffnungen zu sprießen. Kaimane und Eidechsen schmiegten sich an die Menschenkörper. Es waren Darstellungen der Lust, des Spielens, auch des Übertretens. Mit seinen Bildern einer fantastischen Vereinigung von Menschen-, Tier- und Pflanzenwelt wirkte Ren Hang wie ein später Seelenverwandter des Hieronymus Bosch.
Was über seine Fotosessions bekannt ist – er lud Freunde und Freundinnen zum nackten Posieren ein und glitt mit seiner Kamera durch die Szenerie wie ein Endoskop durch Körperinnenräume –, wird nun auf der Bühne inszeniert. Männer und Frauen ziehen sich aus, arrangieren ihre Körper mit Blumen und Tieren. Sangadzhiev ist als Ren Hang ein so lässiger wie konzentrierter Zeremonienmeister. Die Bilder entstehen wie beiläufig. Man merkt es nur am Zucken des Blitzlichts und am Klicken des Verschlusses. Ren Hang arbeitete noch mit einer analogen Kleinbildkamera.
Im dritten Tableau kommt der Fotograf als Gestalt aus dem Jenseits zurück. Er nahm sich 2017 das Leben – mit einem Sprung aus dem Fenster eines Hochhauses. Hier schließt sich der Kreis zur Anfangsszene. Depression, das Stoßen an Grenzen in der Gesellschaft, das Einrichten darin sowie das Scheitern daran kommen zur Sprache. Den intensivsten Moment erfährt dieses Tableau in der Szene mit der Mutter. Sie glaubt nicht an den Tod ihres Sohnes. Sie glaubt nicht einmal, dass er Künstler war, geschweige denn schwul, und dass er Bilder machte, die trotz Zensurverbot auch im kontrollierten chinesischen Internet kursierten und dort klandestines visuelles Rauschmittel waren. Die Mutter telefonierte täglich mit dem Sohn. Er täuschte vor, im Büro zu arbeiten. Mit dieser Lüge glaubte er sich und wohl auch sie zu schützen. Nach seinem Tode sieht man die Mutter weiter anrufen. Eine Stimme bestätigt ihr, wie immer, den Büroarbeitstag des Sohnes.
Ist das Lüge? Ist das Weltflucht? Ist das Überlebensmittel? „Outside“ reißt all diese Fragen an. Das macht die 2019 beim Festival in Avignon gefeierte Inszenierung zu mehr als einem bloßen Erschauerstück über verfolgte Künstler in autokratisch regierten Ländern. Es ist ein guter Auftakt für das Festival F.I.N.D in der Schaubühne.
www.schaubuehne.de
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