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berliner szenenDer Zug hat sich verfahren

Es ist 23.30 Uhr und ich sitze auf einem einsamen Gleis auf dem Bahnhof Südkreuz. Der Zug aus München hat über eine Stunde Verspätung und ich trinke vor lauter Langeweile schon den zweiten Kaffee, was sich später ungünstig auswirken könnte, wie ich ahne.

Meine Tochter kommt von ihrer Interrailfahrt aus Italien wieder und ich überlege, wie sie sich fühlt, ob sie traurig ist, dass das Abenteuer vorbei ist, oder ob sie sich mittlerweile doch ein bisschen auf zu Hause freut. Offenbar ist ihr Empfang schlecht, denn meine letzten gelangweilten Nachrichten hat sie noch gar nicht erhalten.

Ein Mann mit blonden wuscheligen Haaren und grauer Maske setzt sich neben mich und nickt mir zu. Er zeigt auf die Anzeigentafel und sagt: „Der kommt deswegen zu spät, weil der Zug sich nach Leipzig verfahren hat.“

Ich lache hinter meiner Maske und sage: „Guter Witz.“

„Nein wirklich“, sagt er, „mein Sohn hat mir eben ein Video von der Ansage im Zug geschickt. Die sollten nach Halle, sind jetzt aber in Leipzig gelandet, weil eine Weiche falsch gestellt wurde. Sehen Sie.“ Er zeigt mir sein Handy, auf dem man ein paar kartenmischende Hände auf einem Tisch im ICE sieht und die Ansage des Zugbegleiters hören kann, der ebendies bestätigt und erklärt, dass sie in Leipzig-Halle-Flughafen die Fahrrichtung ändern werden.

„Das gibt’s doch nicht“, sage ich. „Wo kommt denn so was vor?“ Der Mann lacht, schlägt das eine Bein über das andere und sagt: „Die Bahn eben. Aber das erinnert mich an die legendäre Ausrede eines Mitschülers von früher, der allgemein Stalin genannt wurde, weil er einen ähnlichen Schnauzer hatte. Als der eines Morgens zu spät in den Unterricht kam, sagte er: „Schuldigung, aber die U-Bahn hat sich verfahren.“ Der Spruch kam natürlich als beste Ausrede des Jahrgangs in die Abizeitung.“ Isobel Markus

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