: Volkskrankheit Burnout: „Angst essen Seele auf“
Unter dem holprigen Titel „Angst essen Seele auf“ beschreibt Rainer Werner Fassbinder in seinem Film aus den 70er-Jahren das leidvolle Leben des Arbeitsmigranten Ali. Ali ist überall. Im Erwerbsleben von heute machen immer mehr Menschen dieselbe Erfahrung: „Angst essen Seele auf.“ Die Angst lauert in Werkhallen und schnieken Büros, an Maschinen, Computern und Konferenztischen und hat sich zum Vielfraß entwickelt. „Seele“ steht permanent auf ihrem Speisezettel. Die Angst am und um den Arbeitsplatz frisst auf, was den Menschen ausmacht: seine „Seele“, sein Innerstes, den Kern seiner Persönlichkeit und deren Würde. Nichts anderes meint jene moderne Volkskrankheit, die heute – neudeutsch – eher unter der Bezeichnung „Burnout“ daherkommt
von Paul Schobel
In meinen vierzig Jahren als Betriebsseelsorger blieben mir diese Veränderungen nicht verborgen. Ich erlebte zum Beispiel junge Väter, die abends – falls sie überhaupt nach Hause kommen – in der Familie zu nichts mehr zu gebrauchen sind. Frau und Kinder wissen schon, dass man Papi tunlichst in Ruhe lässt. Er ist ja ohnehin nur körperlich präsent. Mit einem Auge schielt er ständig auf sein iPhone, schreibt Mails noch bis nach Mitternacht, um dann am frühen Morgen wieder dorthin zu entschwinden, woher er gekommen war. Eigentlich ist er nur noch Kostgänger zu Hause, seinen Lebensmittelpunkt hat er längst in die Firma ausgelagert. Kracht es dann im Gebälk der Beziehung oder laufen die Kinder aus dem Ruder, wird vertagt. Vertagt in die kümmerlichen Freiräume des Wochenendes oder des Urlaubs, die genauso wie der Feierabend von der Arbeit angefressen sind.
Eine verhängnisvolle Spirale, bis die Seele in die Knie geht
Auf Dauer geht das nicht gut. Erhöhte Reizbarkeit, einhergehend mit erheblichen Schlafstörungen, macht das Leben und das Zusammenleben immer mehr zur Qual. So kommt eine verhängnisvolle Spirale in Gang: Konzentration und Leistung lassen nach, also steuert man mit noch mehr Anstrengung dagegen. Aber das bleibt meist vergebliche Liebesmühe! Schon wird das Projektteam nervös, Rückmeldungen sind nicht mehr zu überhören, der Angstpegel steigt. Man kann nicht mehr mithalten im gnadenlosen Wettbewerb am Arbeitsplatz. Projekte – eingeschnürt in ein enges Zeitkorsett mit höchsten Ansprüchen an Termintreue, Qualität und Dokumentation – machen das Atmen schwer. Gesetzliche und tarifliche Arbeitszeitregelungen werden zu Lachnummern. In neuen, sympathisch klingenden Modellen wie „Vertrauensarbeitszeit“ wird das tägliche Pensum gleich gar nicht mehr erfasst oder einfach umgangen. „In unserem Laden gehen nachts die Lichter nicht mehr aus“, klagt ein Betriebsrat. Der Tag ist nicht mehr fern, bis bei diesen „Höchstleistern“ die Seele in die Knie geht. Sie sucht sich meist erst einen Weg in körperliche Symptome. Die aber überlagern nur, was tief innen vor sich geht, wo die Sinnfrage zu rumoren beginnt. Das Leben ist aus dem Gleichgewicht geraten. Die Menschen fühlen sich nur noch erschöpft, ausgebrannt wie eine Raketenstufe, leblos wie ein Kokon, eine trostlose Hülle.
Um ein anderes Beispiel zu nennen: Ich begegne älteren, oft hoch qualifizierten Ingenieuren und Entwicklern, Bankern, Versicherungs- oder Werbefachleuten, die am Ende ihrer Kräfte resigniert das Handtuch werfen. Gezielt wurde gegen sie ein junger Kollege als Rivale in Stellung gebracht, spottbillig eingekauft, aber vollgepumpt mit dem frischen Fachwissen des Studiums. Ihm winkt die Übernahme auf einen Dauerarbeitsplatz, wenn er den „Alten“ nebenan so weit bringt, seine Festung „freiwillig“ zu räumen. Da kommt Stimmung auf.
Burnout betrifft aber auch „die da unten“, von denen redet nur keiner. Ich denke an die vielen Frauen an den Ladenkassen, die allzeit freundlich in einem Höllentempo die Warenströme über die Scanner ziehen. Als Alleinerziehende gelingt es ihnen angesichts der erweiterten Öffnungszeiten kaum noch, ihre Teilfamilie zu „managen“ und ihren Kindern die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. Auch sie brennen aus – über kurz oder lang! Wie die Frauen in der Pflege, die – minutengenau getaktet – ihre „Module“ an kranken und alten Menschen abarbeiten müssen und die Daten sofort an die Leitstelle funken. Die Fernfahrer nicht zu vergessen, ferngesteuert, fernüberwacht, moderne Nomaden, heimatlos in oft brüchigen Beziehungen. Manche fahren sich als Scheinselbständige um Kopf und Kragen und gefährden dabei sich und andere. Unmöglich, alle zu nennen, die von Burnout bedroht oder schon betroffen sind.
Burnout: Super-GAU für Seele und Leib
Ein solches Höllenfeuerchen ist alles andere als lustig. Der Begriff „Burnout“ ist ja eine Leihgabe aus der Atomindustrie und umschreibt beschönigend den Super-GAU. Burnout beschädigt die Menschen an Seele und Leib. Dieses Krankheitsbild trägt die Kennzeichen einer Depression, ist schon Depression oder triggert sie. Sie frisst sich gnadenlos hinein in die Beziehungen, die ohne sorgsame Pflege nicht standhalten können. Dafür aber fehlt es an Kraft und Zeit. Das Leben wird eindimensional, ist nur noch auf die Erwerbsarbeit hin zentriert. Die Überlast der Arbeit versperrt den Betroffenen nach und nach den Zugang zu den reichen Schätzen der Bildung und Kultur und führt zu einem Kümmerdasein. Mehr noch: es macht die Betroffenen zu gesellschaftlichen „Blindgängern“. Große Teile der berufstätigen Jahrgänge treten im politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Raum kaum noch in Erscheinung. Vereine, Verbände, Parteien und Kirchengemeinden wissen ein Lied davon zu singen. Immer mehr treibt mich die Frage um: Ist das womöglich so gemeint?
Die Sache hat System: Im Kapitalismus gerät die Erwerbsarbeit ständig unter Legitimationsdruck und wird als „Kostenfaktor“ in der betriebswirtschaftlichen Rechnungsführung rigoros bekämpft. Wo man die Kapitalrendite zum alleinigen Ziel erklärt, muss die Arbeit unter die Räder kommen. Sie ist in den modernen „Wertschöpfungsketten“ der weichste der Produktionsfaktoren. Gesetzlich kaum geschützt, wenig machtbewehrt infolge schrumpfender Solidarität, wird die Arbeit gegen die Menschen missbraucht. Denn Missbrauch ist es, aus Angst Produktivität zu schöpfen. Nicht zuletzt auch deswegen, weil die Folgekosten auf die Allgemeinheit abgewälzt werden.
Einem so komplexen Krankheitsbild wie Burnout ist natürlich nicht mit einem einzigen Kräutlein beizukommen, da braucht's schon ein „Breitband-Antibiotikum“. Fangen wir mal beim Betroffenen selber an: Ein ausgewachsener Burnout bedarf einer kompetenten und meist lang andauernden Therapie. Die Prognose ist oft nicht sehr aussichtsreich, denn eine Rückkehr an den alten Arbeitsplatz macht so lange keinen Sinn, als sich dort nichts verändert hat. Also woanders hin? „Dort erwartet mich dasselbe“, klagt mir einer. Alles entscheidet sich daran, ob die Betroffenen nach der Stärkung ihres Autoimmunsystems besser standhalten, mit der Angst souveräner umgehen und ihr Leben ausgeglichener gestalten können.
Seelsorgerlich achten wir bei Burnout auf die Stabilisierung der Beziehungsnetze. Diese Krankheit mutet den Angehörigen und Freunden einiges zu! Selbsthilfegruppen können heilsam sein. Unumgänglich ist es, schonend auf die berühmte „Wertefrage“ hinzuführen. Je früher man sich diese stellt, umso besser: Was macht mich wirklich aus, was macht mein Leben wertvoll und schön – für mich und andere? Wovon träume ich, was will ich in meinem Leben erreichen, wie kann und will ich alt werden? Welches sind die „inneren Antreiber“ in mir, die mich an die Wand drücken? Beruflicher Aufstieg, die nächste Sprosse auf der Karriereleiter bis hin zu Egomanie und Narzissmus? Die meisten der später Ausgebrannten sind ja in ihrer Arbeit hoch motiviert und identisch, sind in ihr auf- und erst danach in ihr untergegangen. Nur wer brennt, kann verbrennen. Und spätestens jetzt kommen die „äußeren Antreiber“ ins Spiel, die immensen Leistungsanforderungen im Betrieb. Die verstehen es genial, Fleiß, Kreativität, das Können und das gesamte „Know-how“ der Leute anzufachen und abzugreifen, bis sie ihr Letztes geben, ohne dabei auf ihre Bedürfnisse zu achten. Die offen oder latent ausgetragene Konkurrenz an den Arbeitsplätzen erledigt den Rest, dann übernimmt die Angst das Kommando.
Nicht auszumalen, was die Zukunft noch bringen wird. Namhafte IT-Firmen wollen sich von ihren Spezialisten trennen und die Aufträge weltweit ins Internet stellen. Dort darf man sich, nicht ohne zuvor bis auf die Knochen durchleuchtet worden zu sein, um Arbeit bewerben: „Cloud working“ nennt sich dieser neue Hit. Damit werden aus Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern „Arbeitskraftunternehmer“, die sich nun – bar jedes sozialen Schutzes – auch noch selbst vermarkten müssen. Viele werden vergebens in der Wolke stochern und leer ausgehen. Eine Lebensplanung ist auf so wackligen Planken gar nicht mehr möglich. Dann wird Burnout zum Flächenbrand.
Die Zunahme der Störungen ist verheerend
Seit Jahren schon rücken die Gewerkschaften in ihren Kampagnen die Kriterien „guter“ Arbeit in den Mittelpunkt, denn die Zunahme arbeitsbedingter psychischer Störungen und der damit verbundenen Ausfallzeiten ist verheerend. Vorgesetzte und Betriebsräte, das betriebliche Sozialwesen und die Arbeitsmedizin tun sich immer noch schwer, mit diesen Störungen umzugehen. Eine unglaubliche Arbeitsverdichtung überzieht heute das gesamte Unternehmen. Es ist kaum mehr möglich, jemand auch nur vorübergehend an einen Schon-Arbeitsplatz zu versetzen. Seelische Störungen, „Stressfallen“, werden in den gesetzlich vorgeschriebenen „Gefährdungsanalysen“ noch gar nicht erfasst, also kann auch nicht wirksam gegengesteuert werden. Es ist fast die Ausnahme, dass sich starke Führungskräfte schützend vor ihre Leute stellen. Die meisten geben den Druck, den sie von oben erhalten, nach unten weiter. Auch die Führungscrew steht ja in Konkurrenz zueinander und unterliegt einer gnadenlosen Überwachung.
Arbeitsüberlastung ruiniert das gesamte Betriebsklima. Je stärker der Druck, umso mehr nehmen Mobbing und Schikanen zu. In vielen Abteilungen entwickelt sich eine Art Überlebensmentalität: „Rette sich, wer kann …“ Dabei schaut man nicht mehr nach rechts oder links! So wird die stärkste Waffe stumpf, mit der man diese Angriffe auf Recht und Würde der Arbeit, auf die Unversehrtheit der Person und die Gesundheit am Arbeitsplatz abwehren könnte, nämlich die solidarische Gegenwehr. Wenn jeder sich selbst der Nächste ist, haben die Ausbeuter ein leichtes Spiel. „Teile und herrsche“ gehörte schon immer zum bewährten Repertoire. Wenigstens zeigt sich ein kleiner Silberstreif am Horizont: Langsam lernen auch IT-Spezialisten, sogar die „Nadelgestreiften“ in Banken und Versicherungen hinzu, organisieren sich in Gewerkschaften und kämpfen um tariflichen Schutz.
In Gesellschaft, Wirtschaft und Politik aber wird es höchste Zeit, einen alten Diskurs neu zu entfachen, nämlich den um die „Humanisierung der Arbeit“ und um die Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Beide Baustellen wurden durch die Massenarbeitslosigkeit hektisch zugeschüttet und müssen neu eröffnet werden. Es geht um ein lebensfreundliches Bild von Erwerbsarbeit. Es darf nicht sein, dass die Wirtschaft den Arbeitenden sozusagen ihre zehn besten Lebensjahre abgreift, um sie dann leer gebrannt zu verschrotten. Wir arbeiten, um leben zu können, und nicht umgekehrt.
Dabei ist eines allerdings klar: Ohne eine wirksame Mitbestimmung wird es keine menschengerechte Arbeit geben.
■ Paul Schobel ist Betriebsseelsorger i. R.