: Das Drama des Zusammenlebens
„Weiche Ziele“ zu verhärten kann keine Lösung der kulturellen Konflikte sein. Man braucht den Willen, sich die Vielfalt nicht zerstören zu lassen
VON CHRISTIAN SEMLER
Die Handschrift der Terroranschläge in London ist offenkundig. Den Attentätern ging es, wie zuletzt in Madrid, nicht darum, eine bestimmte Persönlichkeit oder Personengruppe anzugreifen, in der sie die Verkörperung eines ihnen verhassten Systems sahen. Wäre es ihnen auf einen solchen Effekt angekommen, so hätten sie versucht, Teilnehmer des laufenden G-8-Gipfels ins Visier zu nehmen. Es ist gerade die Zufälligkeit der Opfer, die gewollte Ungezieltheit, die ihre mörderischen Aktionen bestimmt.
Die Londoner Attentäter stehen damit in der Tradition der extremen Rechten. Durch die Verbreitung von Furcht und Schrecken versuchten schon in den Sechzigern faschistische Banden in Zusammenspiel mit ihren Verbündeten in den Geheimdiensten, in demokratisch verfassten Gesellschaften der Machtübernahme durch ein autoritäres Regime den Boden zu bereiten. Eine solche Motivation scheidet bei den Londoner Attentaten aus. Das Ziel ihrer Anschläge ist es, durch Zerstörung Identifikation zu schaffen.
In der Debatte über den internationalen Terrorismus hat es sich im Westen als Gemeinplatz durchgesetzt, von „weichen Zielen“ zu sprechen. Damit wird ein Dilemma der entwickelten Industriestaaten nicht nur des Westens benannt. Wie sollten die Kommunikationslinien, die öffentlichen Plätze, die Versorgungseinrichtungen effektiv vor Angreifern geschützt werden, die ihren eigenen Tod nicht nur zur Not in Kauf nehmen, sondern freudig begrüßen? Eine nahtlose Überwachung via Kameras (sie ist in London zum Teil bereits in die Tat umgesetzt) ist ebenso nutzlos wie ein feinmaschiges Netz bei der Kontrolle der Immigration, denn auch dieses Netz versagt, wenn die Attentäter, wie im Fall Madrids, bereits seit langem am Ort des Attentates heimisch sind.
Bleibt die Überwachung und Kontrolle der vermeintlichen Basen der Terroristen, von denen diese Indoktrination, operative Hilfe und nachträglichen Schutz beziehen. Diesen Weg haben die meisten westlichen Regierungen eingeschlagen, aber er ist gefährlich für den Bestand dessen, was verteidigt werden soll: offene Gesellschaften, die eine Vielfalt von Überzeugungen und Lebensstilen nicht nur tolerieren, sondern sie geradezu als Bedingung ihrer Fortexistenz ansehen.
In den großen Metropolen des Westens, in denen ein verletzliches Neben-, zum Teil auch Ineinander unterschiedlicher Kulturen und Ethnien besteht, können verallgemeinerte Feinderklärungen, wie zum Beispiel im Begriff „islamistisch“ enthalten, zu Kettenreaktionen führen. Wir haben schon erlebt, wie in den stolzen Zentren kultureller Vielfalt, in Amsterdam oder in Kopenhagen, ein paar Jahre Kulturkampf ausreichten, um einer xenophoben, an die eigene „Identität“ sich klammernden Stimmung zum Massenanhang zu verhelfen.
Eine Stadt wie London ist ein Laboratorium des Zukünftigen. Nicht die Westminster City, sondern das vielfältige, lebendige und schöpferische „Greater London“ samt seinen gewaltigen, ungelösten auch ethnischen Problemen. Gerade dieses ungewisse Versprechen auf ein friedliches Zusammenleben der Völker und der Religionen ist es, was den Hass der Terroristen bündelt.
Es wäre falsch, in der Wahl der „weichen Ziele“ nur ein taktisches Mittel der Terroristen zu sehen, eine Art Ausweichmanöver im „asymmetrischen Krieg“. Im Zentrum des Denkens von Leuten, die das „weiche“ Ziel Großstadt angreifen, steht der Kampf gegen den Moloch Metropole mit seinen unreinen Vermischungen, seiner identitätsbedrohenden Dynamik.
Seit sich die Grundlinie des „langdauernden Kriegs gegen Terror“ herauskristallisierte, wissen wir, dass sich zwei Fundamentalismen, der in den USA ansässige und der in der islamischen Welt virulente, in die Hände spielen, um den „Kampf der Kulturen“ als unausweichliches Kampfterrain zu etablieren. Der Begriff „universelle Werte“ erhält in dieser Auseinandersetzung seitens Bush und Blair eine eindeutig den Interessen der westlichen Machteliten folgende Verengung und Zuspitzung.
In der denkwürdigen Trauerfeier der Stadt New York für die Opfer des Anschlags vom 11. 9. schien ein Gegenmodell zu der Kriegserklärung von Bush und Blair auf – Trauer, Mitleiden, der feste Wunsch, sich als vielfältige kulturelle und ethnische Einheit nicht auseinander sprengen zu lassen. Das „Drama des Zusammenlebens“, von dem der Philosoph Tzvetan Todorov sprach, basiert nicht auf faulem Desinteresse am „Anderen“, sondern auf Streit und auf Kooperation. Die weichen Ziele der „Hure Babylon“ können sich als unzerstörbar erweisen.