: Fünf Stationen bis zur Gewalt
Daniel Egbert ist Polizeibeamter in Anacostia, ganz in der Nähe des Amtssitzes von US-Präsident Barack Obama
AUS WASHINGTON RALF SOTSCHECK
An der Station Navy Yard steigen die letzten Weißen aus. Dann fährt die Metro unter dem Anacostia River, einem Seitenarm des Potomac, weiter nach Anacostia. In diesem Viertel leben 77.000 der 592.000 Einwohner Washingtons. Neunzig Prozent sind schwarz, die restlichen zehn Prozent hispanischer Herkunft. Das Weiße Haus ist fünf U-Bahn-Stationen entfernt, zum Capitol sind es gut drei Kilometer, aber wer auf der anderen Seite des Flusses lebt oder arbeitet, kommt nicht nach Anacostia.
Das Polizeirevier, das für den 7. Distrikt zuständig ist, liegt in der Alabama Avenue. Durch die Glastür betritt man einen großen, runden Raum. Am Eingang stehen fünf Kaugummiautomaten, rechts davon ein Geldautomat, daneben eine Vitrine mit Auszeichnungen für verdiente Beamte. Darüber hängt eine Urkunde – eine Ehrung für die Verbrechensreduzierung. Seit 1960 wurden in Anacostia 3.000 Menschen ermordet, allein 1991 waren es 482. Das brachte Washington den Ruf ein, die „mörderische Hauptstadt“ der USA zu sein. Inzwischen ist die Zahl der Morde auf rund 150 im Jahr zurückgegangen.
Nach einer Weile kommt Daniel Egbert. Der 33-Jährige ist einer der wenigen weißen Polizisten auf dem Revier. Er trägt die Uniform der Metropolitan Police: dunkle Hose und blaues Hemd mit Polizeiwappen, dem Capitol. Um den Hals hängt ein Funksprechgerät, rechts im Halfter steckt eine Pistole.
Er stammt aus Philadelphia. „Ich habe meine Ausbildung an der Polizeiakademie in Anacostia gemacht“, sagt er. „Es ging zu wie in einem Militärcamp: Appelle, Betteninspektion, Kleiderkontrolle. Ich hatte Glück. Weil die Klimaanlage kaputt war, durfte ich abends immer nach Hause.“ Nach der Ausbildung musste er drei Präferenzen angeben. „Anacostia war meine dritte Wahl. Hier wird es nie langweilig, jeder Tag ist anders.“ An den Wochenenden fährt er manchmal nach Hause, bis Philadelphia sind es zwei Stunden.
Schräg gegenüber dem Polizeirevier, die 30. Straße hoch, kommt man zur W-Straße. Man findet sich in Washington schnell zurecht: Ausgehend vom Capitol sind die Straßen rechts und links nach aufsteigenden Zahlen benannt, nördlich und südlich nach Buchstaben.
In der W-Straße mit ihren bunten Reihenhäusern liegt hoch auf einem Hügel ein einzelnes großes Haus, das Frederick Douglass House. Douglass, der „Löwe von Anacostia“, wurde 1818 als Sklave geboren. Er kämpfte für die Gleichberechtigung der Rassen und für das Wahlrecht der Frauen. Später stieg er zum US-Marshall auf. Das Haus kaufte er 1877, erweiterte es auf 21 Zimmer und lebte dort bis zu seinem Tod im Jahr 1895. „Heute ist es ein Nationaldenkmal“, sagt Egbert. „Das Frederick-Douglass-Haus zeigt den untergegangenen Charme des Viertels.“
Bis in die Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts lebten weiße Familien aus der Mittelschicht in Anacostia. „Dann stiegen die Hauspreise in der Innenstadt, und die ärmeren Leute zogen in die Gegend südlich des Flusses“, sagt Egbert. „Außerdem baute die Stadtverwaltung massenhaft Sozialwohnungen.“ Fast ein Viertel der 10.000 Sozialwohnungen Washingtons liegen in Anacostia. Die Weißen fürchteten den Wertverfall ihrer Immobilien und zogen weg. „Seit den Achtzigerjahren ist Anacostia ein Schwarzenviertel“, sagt Egbert.
28 Prozent Analphabeten
Die Hälfte der Erwachsenen ist arbeitslos, 28 Prozent gelten als Analphabeten, ein Drittel lebt unter der Armutsgrenze, zwei Drittel der Kinder wachsen ohne Vater auf. Gewalt ist immer noch an der Tagesordnung, trotz der verbesserten Statistik. „Du siehst jemanden schief an, und es gibt Krach“, sagt Egbert. „Es ist nicht mehr so wie früher, als die Jugendlichen mit den Fäusten aufeinander losgingen. Heutzutage sind gleich Waffen im Spiel. Es ist so einfach, sich in Anacostia eine Waffe zu besorgen.“ An vielen Laternen hängen Stofftiere oder Fotos zum Gedenken an die jugendlichen Opfer, von denen manche nicht älter als 13 oder 14 sind. „Und die Täter sind auch nicht älter“, sagt Egbert.
Dabei sieht Anacostia keineswegs aus wie ein Ghetto. Sicher, manche Häuser sind mit Brettern vernagelt, viele Straßen haben tiefe Schlaglöcher. Bis auf ein Café, eine Pizzeria und einen chinesischen Schnellimbiss gibt es keine Restaurants, nicht mal einen McDonald’s. Der hat in den Achtzigerjahren dichtgemacht. Ein Supermarkt hat erst vor knapp zwei Jahren eröffnet. Aber es gibt kaum hohe Wohnsilos, sondern kleine Reihenhäuser, die zwar nicht sonderlich herausgeputzt, aber keineswegs verwahrlost sind. Manche kosten 400.000 Dollar.
Von der Lage her könnte Anacostia die schönste Wohngegend Washingtons sein, es ist grün und hügelig, und vom Highway 295 blickt man über den Fluss hinüber zum Capitol und zum neuen Baseballstadion „Nationals Park“ am gegenüberliegenden Ufer. Es fasst 41.000 Zuschauer, im März vorigen Jahres ist es eröffnet worden. „Seitdem hat Washington nach 33 Jahren Abstinenz wieder ein Baseballteam, die Washington Nationals“, erzählt Egbert. „Der Klub ist aus Kanada eingekauft worden, dort hieß er Montreal Expos. Eigentlich ist Baseball ein Spiel für Weiße, doch die Stadtoberen glauben, dass das Stadion auch die Entwicklung in Anacostia beschleunigen wird.“
Aber wie? In Barry Farm wird sich auf absehbare Zeit nichts ändern, glaubt Egbert. Es war ursprünglich eine Siedlung für Weltkriegsveteranen. In den Sechzigerjahren wurden die Häuser in Sozialwohnungen umgewandelt. „Hier hat kaum einer einen Job“, sagt Egbert, „die Verbrechensrate ist selbst für Anacostia hoch. In den drei Jahren, in denen ich hier arbeite, gab es fast jede Nacht Messerstechereien oder Schießereien.“ Das Viertel ist sehr schwer zu kontrollieren: „Durch die vielen schmalen Gassen und Pfade zwischen den Häusern können die Täter leicht entkommen.“
Es sind Viertel wie dieses, die US-Präsident Barack Obama meinte, als er während des Wahlkampfs nach Anacostia kam und sagte: „Solches Elend und solche Hoffnungslosigkeit dürfen wir nicht zulassen.“ Doch es gibt keine Jobs für Menschen ohne Ausbildung, und in Anacostia macht kaum einer seinen Schulabschluss. Im März hat Michelle Obama, die First Lady, die Anacostia High School besucht. „Meine Eltern kommen aus der Arbeiterklasse“, erzählte sie den Kindern. „Es ist nicht unmöglich, dorthin zu gelangen, wo ich heute bin.“ Wenige Monate vor ihrem Besuch gab es eine Messerstecherei auf dem Schulhof, mehrere Kinder mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden. „Die Kinder glauben nicht an ihre Chance“, sagt Egbert, „und ihre Eltern tun es auch nicht.“ Da helfen keine optimistischen Straßennamen, wie der einer kleinen Sackgasse am Rande von Barry Farm: „Making Life Better Lane.“
Gitter im Wagen
Bei Egberts weißen Dienstwagen, einem Ford mit roten und blauen Streifen, ist die hintere Bank durch ein Gitter abgetrennt. Vorn, zwischen den Sitzen, ist ein Laptop angeschraubt. Heute bekomme er keinen gefährlichen Einsatz mit Blaulicht und Sirene, weil er einen Zivilisten dabei habe, sagt Egbert. So hat er Zeit anzuhalten, als er einen alten, offensichtlich betrunkenen Mann am Straßenrand sitzen sieht. Er hält ein paar Dollar in der Hand, um ihn herum tanzen Kinder. „Sie werden ihm das Geld wegnehmen“, sagt Egbert und steigt aus. Er führt den Betrunkenen zum Auto, setzt ihn auf die Rückbank und fährt ihn zum St. Elizabeth’s Hospital.
Das Krankenhaus wurde vom Kongress 1852 eröffnet, es war das erste staatliche psychiatrische Krankenhaus in den USA. Inzwischen ist es verfallen, aber in einem Flügel sind noch Patienten untergebracht: John Warnock Hinckley zum Beispiel, der 1981 den Präsidenten Ronald Reagan angeschossen hat, weil er der Schauspielerin Jodie Foster imponieren wollte. Hinter dem Krankenhaus, in einem desolaten Flachbau, ist das Heim für Obdachlose untergebracht. Dort gibt Egbert den Betrunkenen ab und lüftet danach das Auto.
Als er vom Krankenhausgelände fährt, werfen Kinder Steine nach dem Auto, ohne es zu treffen. „Wenn ich aussteige, rennen sie weg“, sagt Egbert. „Sie mögen die Polizei nicht. Ich behandle sie mit Respekt und hoffe, dass sich das eines Tages auszahlt.“ Er kennt das Viertel wie seine Westentasche: „Du weißt, was dich erwartet. Eine Straße ist okay, in der nächsten ist es wie im dritten Weltkrieg.“
Verschärft werden die Probleme durch Phencyclidin (PCP), auch bekannt als Angel Dust. „Manche werden ganz ruhig, wenn sie das Zeug geraucht haben“, sagt Egbert. „Andere werden aggressiv, und sie sind dabei enorm kräftig. Eine Frau, sie wog höchstens 50 Kilo, hat sich so heftig ihrer Festnahme widersetzt, als ob sie 2 Meter groß und 150 Kilo schwer wäre. Ich brauchte Hilfe von vier Kollegen, um sie ins Auto zu schaffen.“ Bei schönem Wetter gebe es ständig Ärger, sagt er. „Deshalb liebe ich Regen. Dann bleiben die Leute zu Hause.“