piwik no script img

Kosmische Kapriolen

Lee „Scratch“ Perry ist gestorben. Der visionäre jamaikanische Produzent schickte am Mischpult Reggae in die Echokammer und erweckte damit die Geister des Dub zum Leben

Vorsicht mit den Heilkräutern: Lee „Scratch“ Perry bei einem Konzert in Hamburg, 2019 Foto: Carsten Dammann/ima go

Von Lars Fleischmann

Als Kind aus ärmlichsten Verhältnissen – Vater Straßenarbeiter, Mutter Erntehelferin für Zuckerrohr, die Behausung eine Wellblechhütte – wusste Rain­ford Hugh Perry schon früh, dass man sich Geradlinigkeit leisten können muss. Als er 1936 in dem Ort Manchester auf Jamaika geboren wurde, war die Insel noch lange nicht das karibische Urlaubsparadies heutiger Tage. Doch Perry kam gerade pünktlich zur Welt, um selbst in das Schicksal seines Landes einzugreifen, dass damals noch britische Kolonie war. Wenngleich er nicht das werden sollte, was man einen „Nationalhelden“ nennt. Bis zuletzt galt der berühmte Dubreggaeproduzent als Nonkonformist – nicht immer freiwillig.

Als Teenager verdiente er sich sein Auskommen mit Glücksspiel, nahm Aushilfsjobs an und tanzte auch mal halbprofessionell für Essen und ein Dach über dem Kopf. Einflüsse prasselten auf ihn ein: Die damals gerade entstehende Rastafari-Bewegung, die von den Behörden verfolgt wurde, obgleich sie immer mehr Anhänger gewann; die Lehren des Publizisten und Politikers Marcus Garvey, der von der „friedlichen Kolonialisierung“ Afrikas gepredigt hatte und als Vordenker des Panafrikanismus galt; dazu den vom US-R&B-Sound geprägten Ska als frühe Ausformung dessen, was heute meist unter Reggae subsumiert wird. Dem Rastafarianismus trat Perry zeitlebens indifferent entgegen. Abbilder Garveys trug er hingegen wie Ikonen bei sich – und an der Weiterentwicklung von Ska zum härteren Rocksteady, (Roots-)Reggae und schließlich Dub war er unmittelbar beteiligt. Anfang der 1960er ging Perry nach Kingston, heuerte beim Produzenten Coxsone Dodd an, war zunächst „Go fer“, Bote, der Platten für die mobilen Diskotheken, Soundsystems genannt, transportierte, „Upsetter“ wurde er da genannt, weil er die Soundsystems gegeneinander ausspielte. Und, er war dabei, als das berühmte Studio One aus der Taufe gehoben wurde, ein Studio, das selbst zur Plattenfirma werden sollte. Das jamaikanische Musikbusiness funktionierte nach dem simplen Muster: Ein Komponist ging ins Studio mit einem Lied, heuerte dafür einen Sänger an, dessen Songfassung wurde von einem Toningenieur aufgenommen, auf Platte gepresst und verkauft. Perry nahm eine Single auf, den „Chicken Scratch“. Rainford Hugh war fortan und endlich nur noch als Lee „Scratch“ Perry bekannt.

Erst scoutete er nach Talenten in den Dancehalls, dann stand er häufiger selbst am Mischpult, wurde Toningenieur, produzierte viele Künstler, etwa The Wailers und Bob Marley – und jeden oder jede, der oder die etwas auf sich hielt. Und wenn gerade niemand da war, baute er seine eigene Backingband, The Upsetters, auf. Jetzt fummelte er nicht nur während der Aufnahmen an den Reglern und Tonspuren herum, sondern manipulierte sie auch danach. Zu jedem Song bastelte er eine sogenannte Version, eine abweichende Instrumentalfassung, zu der wiederum Sän­ge­r:In­nen Gesangsspuren aufnehmen konnten.

Mix als künstlerischer Akt

Als Erster spielte Lee „Scratch“ Perry das Mischpult wie ein Instrument und brachte Melodien zum Nachhallen

Bei Perry war das „Versioning“ mehr als nur Handwerk, er spielte das Mischpult wie ein Instrument. Immer neue Schichten an Effekten trug er auf, bediente Filter und ließ das Echogerät Kapriolen schlagen. Melodien hallten über Sekunden nach … Aufnehmen, Mixen, die technischen Apparaturen bedienen und den Klang formen sowie gestalten – durch Lee „Scratch“ Perry wurde dies zum eigenen künstlerischen Akt. Ohne Perry wären die ProduzentInnen (elektronischer) Musik von heute nicht auf dem kosmischen Level, zu dem er früh gelangte. Da Zeit Geld ist, und auch Tonbänder teuer waren, musste Perry schon vorab wissen, was passiert, wenn er an Knöpfchen A dreht und mit Schieber B herumfuchtelt. Das alles geschah in seinem Kopf – natürlich mitausgelöst durch die Knospen des Cannabis sativa. Einem Genuss, dem er sich mal spirituell, dann wieder säkular widmete. Sein eigenes Studio, „Black Ark“, ging 1979 in Flammen auf, vermutlich durch Brandstiftung. Man munkelt, er wollte damals Geister und Stimmen aus seinem Kopf vertreiben. Auch sein Aussehen wurde exzentrischer: Mal trug er CDs am Körper, glitzernde Foolheads, dann den Kopfschmuck der US-amerikanischen Ureinwohner, Bart und Haare waren grün, gelb oder rosa gefärbt. Im Rausch, in der Musik, in der Philosophie und im Look: Perry blieb immer eine un(be)greifbare Chimäre.

Er verließ Jamaika, landete erst im London der Punkjahre, dann mit seiner zweiten Frau Mireille Campbell in der Schweiz, an der Goldküste des Zürichsees. So alienhaft und paradiesvogelartig er in den letzten Jahrzehnten wirkte, so produktiv blieb er bis zuletzt. Konzerte und Alben gab es in schöner Regelmäßigkeit. Da vergaß man fast, dass Lee „Scratch“ Perry längst ein greises Alter hatte. Mit 85 starb er am Sonntag auf Jamaika. Sein schillerndes Leben und seine ausuferndes Werk werden dennoch ewig nachhallen – dafür hat der Meister des Dub längst gesorgt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen