: Ambivalente Gefühle
Joachim Schlörs Buch über jüdische Emigranten zeigt den Schmerz der Ausgetriebenen
JoachimSchlör: „Im Herzen immer ein Berliner. Jüdische Emigranten im Dialog mit ihrer Heimatstadt“. VBB Verlag, 208 Seiten, 28 Euro
Von Klaus Hillenbrand
Wir mussten unser geliebtes Berlin verlassen, was aus meiner Mutter insbesondere eine gebrochene Frau machte mit ihren 32 Jahren. Sie musste ihre ganze Familie verlassen und von Ort und Ort anfangen zu flüchten. Es war für uns alle eine furchtbare Zeit, erst ohne Sprache, ohne Arbeit, ohne Zukunft, dann der Krieg.“ Judith Gerczuk schrieb diese Zeilen am 21. Januar 1992 aus Melbourne nach Berlin. Es ist eines von Hunderten Schreiben, die zu Beginn der 1990er Jahre von denjenigen eintrafen, die ab 1933 aus ihrer Heimat ausgetrieben worden waren – Berliner Jüdinnen und Juden. Sie reagierten damit auf die Bitte einer Berliner Projektgruppe, die sich daranmachte, ein Gedenkbuch über die von den Nationalsozialisten Verfolgten zusammenzustellen.
30 Jahre später hat der Kulturwissenschaftler Joachim Schlör diese Korrespondenz aus den Archiven entstaubt und zur Grundlage eines Buchs gemacht, das eindrücklich den lebenslangen Schmerz über das Verlorene, aber auch die nie erkaltete Liebe für die Heimatstadt beschreibt. So furchtbar die Umstände der Austreibung waren, so schwierig der Neubeginn in Toronto, New York, Tel Aviv, Melbourne oder London wurde – Berlin blieb unter den Emigranten doch präsent. Schlör legt ein Buch über ambivalente Gefühle vor. Einerseits freuen sich viele der Ehemaligen über den Wunsch aus der alten Heimat, mehr über das eigene Schicksal zu erfahren. Andererseits weckte diese Bitte böse Erinnerungen an die schrecklichen Erfahrungen, mit denen die erzwungene Auswanderung verbunden war – nicht zuletzt die Gedanken an diejenigen Menschen, die den Sprung ins Exil nicht geschafft hatten.
Rachel Ron aus Haifa schrieb: „Wenn Sie nur ahnen könnten, welche Freude (und warm um’s Herzchen) mir Ihr Schreiben machte!!! DIREKTER Kontakt mit meinem BERLIN, Stadt meiner Kindheit und der schönsten Erinnerungen.“
Ganz anders Eva Lewinberg: „Was haben Sie und der Senat von Berlin sich eigentlich dabei gedacht, an uns Berliner zu schreiben und uns aufzufordern, alte Wunden, die endlich notdürftig vernarbt sind, wieder aufzureißen?“ Dennoch bleiben da Gemeinsamkeiten. Denn auch Lewinberg schreibt von ihrer „geliebten Heimat“ und bezeichnet sich selbst als Berlinerin.
30 Jahre sind seit den Briefwechseln vergangen. Kaum einer derjenigen, die damals wieder Kontakt mit Berlin aufnahmen und über ihre ermordeten Freunde und Verwandten berichteten, wird noch am Leben sein. Die Briefauszüge, die jetzt zusammen mit klugen Bemerkungen des Autors zu lesen sind, lassen sie nicht vergessen. Sie zeigen, dass die Emigration vor den Nazis ein Einschnitt in das Leben Tausender war, den diese nie überwinden konnten. Und sie dokumentieren trotz der erlittenen Verbrechen eine bemerkenswerte Verbundenheit mit der alten Heimat.
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