: Die Kindsche Lernkurve
Nach einem glücklichen Sieg gegen den 1.FC Heidenheim gehen die Aufbauarbeiten bei Hannover 96 weiter. Das beste Bild bietet bislang ein ungewöhnlich ehrlicher Trainer
Von Christian Otto
„Das sollte man einordnen als kleinen Schritt nach vorne“, meinte Hendrik Weydandt, Torjäger von Hannover 96, nach dem ersten Saisonsieg. Der 26-Jährige redet gerne Klartext und bewahrt sich im Profifußball einen angenehm klaren Blick auf die Dinge. Aber diesmal schönte er doch: Weydandts entscheidender Treffer gegen den 1. FC Heidenheim in der 88. Minute war vorsichtig gesagt glücklich zustande gekommen in einer insgesamt wenig ansehnlichen Partie. Dass danach im 96-Stadion nur kleinlaut gejubelt wurde, passt zu Hannovers miserablem Saisonstart in der 2. Bundesliga.
In den ersten vier Begegnungen der neuen Saison hat der Verein gerade mal zwei Tore erzielt. Das Heimspiel gegen Heidenheim wollten lediglich 8.600 Zuschauer im Stadion miterleben. Trotz der Corona-Vorsichtsmaßnahmen hätten rund 22.000 Zuschauer kommen dürfen.
Der nächste Versuch der Niedersachsen, sich für eine gute Rolle in der 2. Liga zu empfehlen, beginnt wenig publikumswirksam. „Wir wissen, dass wir noch nicht richtig gut sind“, verrät Jan Zimmermann. Der neue Cheftrainer ist vom Drittliga-Aufsteiger und Lokalrivalen TSV Havelse geholt worden. Auch mit dieser Personalie verbindet die potenzielle 96-Kundschaft offenbar die Befürchtung, dass es noch eine ganze Weile dauern wird, bis die Fußballfans in Hannover wieder Erstklassiges zu sehen bekommen.
Die Reparatur des Abstieges am Ende einer desaströsen Saison 2018/19 droht bei 96 ein längeres Projekt zu werden. Aktuell gibt es wenig Spielraum, um den Spielerkader mit Hilfe teurer Transfers weiter aufzupäppeln. Unter der Regie des sonst so angriffslustigen Mäzens Martin Kind wird zurückhaltend gewirtschaftet. Der bei 96 alles entscheidende Mann ahnt immer mehr, dass es sich um eine längere Abstinenz von der 1. Bundesliga handeln könnte. Anderthalb Jahrzehnte im Oberhaus waren in der jüngeren Vereinsgeschichte eine schöne Zeit. Aber zu viele Fehlentscheidungen bei der Personalauswahl, die vor allem auf das Konto von Kind gehen, wiegen schwer.
Das Problem eines über lange Zeit erfolgsverwöhnten Vereins wie Hannover 96 ist, dass sich die gehobenen Ansprüche nicht mal eben so verscheuchen lassen. Wer gestandene Profis wie Torhüter Ron-Robert Zieler oder Torjäger Marvin Ducksch beschäftigt, muss laut Meinung der Stammtische doch automatisch zu den Aufstiegskandidaten zählen, oder? Natürlich nicht. „Ich will diese Erwartungen gar nicht aufkommen lassen. Jedes Spiel in dieser 2. Liga ist eng“, sagt der neue Chefcoach Zimmermann. Er soll mit Demut und Schwung wieder etwas aufbauen, das Spaß macht, begeistert und Fans anlockt. Wie viel Geduld der chronisch ungeduldige Kind mit seinem nächsten Trainer hat, lässt sich nur erahnen. Dass derzeit viel zu wenig Fans den Weg ins Stadion finden, ist aus Kinds Sicht furchtbar.
Jan Zimmermann, Trainer Hannover 96
Der wohl größte Fehler, unter dem Hannover 96 seit Jahren leidet, ist der Mangel an Konstanz bei entscheidenden Führungspositionen. In der Ära Kind sind Trainer, Sportdirektoren und Geschäftsführer in Serie gekommen und gegangen. Zuletzt wurde im Juni Sportdirektor Gerhard Zuber durch Marcus Mann ersetzt. Aus chronischer Unruhe entsteht bei Hannover 96 seit geraumer Zeit Misserfolg, der nicht auf Knopfdruck verschwinden will. Trotz wirtschaftlicher Zurückhaltung hat Hannover 96 immer noch teure und starke Spielerpersönlichkeiten in seinem Kader. Daraus abzuleiten, dass es irgendwann dann doch wieder für einen der vorderen Tabellenplätze reichen sollte, ist naiv. An den ersten vier Spieltagen der neuen Saison hat das Team um Kapitän Marcel Franke wenig bis gar nicht überzeugen können.
Das Beste, was Hannover 96 im oft tristen Alltag der 2. Liga zu bieten hat, ist ein erstaunlich selbstkritischer Trainer. Zimmermann ist 41 Jahre alt und hat keinerlei Erfahrung im gehobenen Profigeschäft. Sein Einstandssieg gegen Heidenheim hat ihn „total glücklich“ und „froh“ gemacht. Vor der Begegnung hatte er eingeräumt, dass er es keinem Fan übel nehmen könne, wenn er nicht ins 96-Stadion komme. Ein solche Form von Anti-Werbung muss man sich erst einmal trauen, wenn man direkt an einen von Zahlen getriebenen Macher wie Kind berichtet.
Zimmermanns Analysen sind erfrischend ehrlich. Was sein Chef bisher gut findet, kann von ihm nächste Woche allerdings schon wieder ganz anders bewertet werden. Die Lernkurve, der zufolge Trainer für einen Neuanfang viel Zeit und Ruhe benötigen, muss bei Kind nach fast 25 Jahren an der Spitze von Hannover 96 noch sichtbar werden.
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