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Spiel um Macht und Kontrolle

Timofej Kuljabin inszeniert „Fräulein Julie“ am Deutschen Theater äußerst spannend

Von Katja Kollmann

Sag: Geh jetzt in dein Zimmer. Schließe die Tür hinter dir und tu, was du tun musst.“ Jean hört diese Worte zweimal. Von Julie selbst, die ihm gegenüber steht. Direkt danach durch einen winzigen Kopfhörer im Ohr. Julies Verlobter sitzt in einem anderen Raum und beobachtet beide mit der Kamera. Da Jean gehorcht und die Worte wiederholt, entsteht ein unheimlicher Echoraum.

Wie Strindbergs „Fräulein Julie“ ausgeht, ist bekannt: Sie bringt sich um. Timofej Kuljabin lässt Linn Reusse die Küche verlassen, um die Bühne dann langsam abzudunkeln. Was in den 100 Minunten davor in den Kammerspielen des Deutschen Theaters passiert, ist definitiv ein packender, gut gespielter Psychothriller. Wirklich interessant aber ist die zweite Ebene, die Kuljabin und sein Koautor Roman Dolzhanskij bei der Überschreibung von Strindbergs Theaterbestseller ausgebaut haben: die der Verbindung von Kontrolle und Macht.

Oleg Golovkos Bühnenbild spielt darin eine eminent wichtige Rolle: Durch die denkbar einfache, aber kluge Aufteilung der Bühne in zentralen Küchenraum, Überwachungsraum und Leinwand mit Überwachungsvideo wird dem Publikum ermöglicht, beide Blickwinkel einzunehmen. Das altbekannte Filmen auf der Bühne bekommt so eine dramaturgisch unverzichtbare Funktion.

Denn Thomas, durch ein kompromittierendes Video seiner Verlobten Julie gedemütigt, ist nun an einem sie bloßstellenden Video interessiert und hat dafür Jean, den Chauffeur des Hauses, engagiert. Jean steckt sich also den Minikopfhörer ins Ohr, bekommt ab jetzt Befehle, wie er sich Julie gegenüber verhalten soll und weiß, dass er unter Beobachtung steht. Er begibt sich freiwillig in dieses Stadium der totalen Kontrolle – gegen gute Bezahlung.

Felix Goeser spielt eine menschliche Marionette. Er windet sich, drückt die Worte aus sich heraus, die nicht ihm gehören, erzählt Geschichten, die ein anderer erlebt hat und verfällt in eine hysterische Freude, als er denkt, wieder er selbst sein zu können. Aber die Überwachung wird fortgesetzt. Immer mehr spielt Goeser einen Ohnmächtigen, der zwischen der Macht der althergebrachten Ständehierarchie sowie der realen Macht der technisierten Observation zerrieben wird. Jean wehrt sich erst, als er schon mit Julie auf dem Küchenfußboden Sex hatte, seine Verlobte Christine davon Wind bekommt und ihm alle Felle davonschwimmen. Für einen Augenblick verweigert er sich Thomas’Worten, benutzt seine eigenen und gesteht: „Ich kann nicht.“

Selten ist Überwachung so sinnlich dargestellt worden. Aus diesem Grund ist der Blick auf die Bühne beklemmend und interessant zugleich. Wohin richten sich die Augen? Auf die Realität in der Küche? Auf das Video, das einen zum Teil der Überwachung macht? Oder auf Thomas, der so selbst zum Überwachten wird? Eigentlich ist das Publikum in der Position eines totalitären Sicherheitsapparats.

Timofej Kuljabin ist Intendant am Novosibirsker Theater „Rote Fackel“. Er erarbeitet dort seit Jahren Klassiker-Überschreibungen. So hat er Schillers „Kabale und Liebe“, Puschkins „Eugen Onegin“ und Tschechows „Drei Schwestern“ (alles zu sehen auf der Webseite Stage Russia) mit einer entwaffnenden, dabei hochartifiziellen Unmittelbarkeit ausgestattet. Er entwickelt diesen Zugang mit einer kleinen Gruppe von StammschauspielerInnen, deren Können mit seiner Regie eine kongeniale Symbiose eingeht. Nach dem umjubelten „Drei Schwestern“-Gastspiel am DT 2019 inszeniert Kuljabin das erste Mal am Haus.

Geprobt hat er mit Linn Reusse, Felix Goeser, Božidar Kocevski und Franziska Machens schon vor der Pandemie. Vor der Blaupause der Rote-Fackel-Inszenierungen können die DT-SchauspielerInnen souverän bestehen. Ko­cevs­ki spielt den bei Strindberg nicht existenten Thomas, als wäre Rache sein Metier; Reusses Julie bleibt in ihrer zunehmenden Entblößung wahrhaftig und Goesers Jean bekommt Dimensionen der Ambivalenz, für die sich Strindberg mit Handkuss bedanken würde. Das funktioniert, weil Timofej Kuljabin dem Stück seine Seele lässt und sich nicht an ihr vergreift, wie es Simon Stone, der andere Klassiker-Überschreiber, kürzlich bei Federico García Lorcas „Yerma“ in der Schaubühne getan hat.

Wieder am 14., 29. + 30. August

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