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Archiv-Artikel

Die Sucher haben leere Hände

49 Tote, über 700 Verletzte und 30 Vermisste zählt die Polizei inzwischen. Wie viele aber hinter den Attentaten stecken, darüber hat sie nur Theorien

Die Ärzte haben es mit grausamen Verletzungen zu tun: Münzen haben sich tief ins Fleisch eingebrannt

AUS LONDON RALF SOTSCHECK

Mike Matsushita war auf dem Weg zu seiner Arbeit als Touristenführer. Der 37-jährige vietnamesische Flüchtling war nach den Anschlägen vom 11. September von New York nach London umgezogen. Gladys Wundowa, 50, hatte gerade ihre Arbeit als Putzfrau im University College London beendet und wollte ein Seminar in Ostlondon besuchen. Shahera Akther Islam hatte an dem Morgen einen Zahnarzttermin. Die 20-jährige Muslimin nahm eine U-Bahn der Circle Line. Die 24-jährige Türkin Gamze Gunoral war erst vor wenigen Wochen nach London gekommen, um Englisch zu lernen. Sie war auf dem Weg zu einem Sprachkurs.

Seit den Terroranschlägen am Donnerstagmorgen hat niemand etwas von den vier Menschen gehört. Insgesamt werden noch immer 30 Personen vermisst. Es ist anzunehmen, dass sie im Wrack der U-Bahn zwischen King's Cross und Russell Square liegen. Es wird noch Tage dauern, bis ihre Familien Gewissheit haben. Die Bergungsarbeiten gehen nur langsam voran, weil an der Stelle, wo die Bombe explodierte, nur wenige Zentimeter Platz zwischen U-Bahn und Tunnelwand sind. Außerdem herrschen dort unten Temperaturen von 60 Grad, sagte Andy Trotter von der Transportpolizei. „Die Arbeit wird außerdem durch Ratten, Staub und Asbest erschwert.“ Erst gestern Nachmittag konnten die ersten Leichen aus den Trümmern geborgen werden.

Die Zahl der Toten liegt bisher bei 49, mehr als 700 Menschen wurden verletzt. Lisa Wolff, eine Ärztin am Chelsea and Westminster Hospital, sagte zur taz, man habe es zum Teil mit Verletzungen zu tun, denen sie noch nie begegnet sei. „Bei manchen sind die Münzen, die sie lose in der Tasche trugen, tief in den Körper eingebrannt“, berichtete sie. „Andere Verletzte sind mit Knochensplittern von Toten gespickt und werden nun einem Aidstest unterzogen.“

Die Polizei ist sich inzwischen sicher, dass die Bombe im Bus der Linie 30 am Tavistock Square nicht von einem Selbstmordattentäter gezündet wurde. Der Attentäter war vermutlich auf dem Weg zur U-Bahn, sagte ein Polizeisprecher, doch da die anderen Bomben bereits explodiert waren, musste der Bus umgeleitet werden und hatte Verspätung.

Wer hinter den Anschlägen steckt, ist unklar. Zwar gab es mehrere Bekennerschreiben von Organisationen, die mit al-Qaida in Verbindung stehen, doch ob sie authentisch sind, weiß man nicht. In einem Schreiben werden weitere Anschläge in London angekündigt, in einem anderen heißt es, dass als Nächstes Rom dran sei. Die italienische Polizei nahm am Samstag in Rom 142 Menschen fest und stellte anderthalb Kilo Sprengstoff sicher.

Italienische Beamte nahmen auch an der Konferenz teil, zu der die Londoner Polizei am Wochenende 100 hochrangige Polizeibeamte aus 32 Ländern eingeladen hatte. „Man kann einen Gedankenaustausch mit ausländischen Kollegen nicht hoch genug einschätzen“, sagte der stellvertretende Polizeichef Andy Hayman. „Diese Art von Terrorismus betrifft die ganze Welt.“ Bei der Konferenz ging es vor allem um den Austausch von Informationen über mögliche Attentäter. Der britische Geheimdienst meint, dass für die Anschläge von London rund hundert Leute infrage kommen.

Theorien gibt es allerdings mehrere. Sie reichen von einheimischen „Sleepers“, die jahrelang auf ihren Einsatz warteten, bis hin zu ausländischen Attentätern, die erst kurz vor den Anschlägen eingereist sind. In den Zeitungen wird als potenzieller Hintermann der Anschläge immer wieder der Marokkaner Mohammed al-Guerbouzi genannt. Ein Geheimdienstmitarbeiter sagte, man untersuche auch die Möglichkeit, dass es sich bei den Tätern um englische Kriminelle handelt, die von al-Qaida bezahlt wurden. Dagegen spricht jedoch, dass die Bomben von hohem technischem Standard waren und fast zeitgleich explodierten.

Es gibt, wie immer in solchen Fällen, auch Trittbrettfahrer. In Edinburgh wurde am Freitag die Innenstadt gesperrt, weil die Polizei zwei herrenlose Taschen in einem Bus sprengen wollte. In London gab es am Samstag eine Bombenwarnung, die U-Bahn-Station Sloane Square war eine Zeit lang gesperrt. Und in Birmingham mussten am Samstagabend mehr als 20.000 Menschen aus der Innenstadt evakuiert werden, bevor die Polizei ein verdächtiges Päckchen in einem Bus sprengte. Es enthielt keine Bombe, stellte sich heraus.