heute in hamburg: „Antisemitismus knüpft an alte Bilder an“
Jürgen Bönig 68, ist Historiker und bezeichnet sich auf seinen Rundgängen als „Spurenleser“ von Karl Marx und Friedrich Engels.
Interview: Pascal Luh
taz: Herr Bönig, wie hängen Kapitalismus und Antisemitismus zusammen?
Jürgen Bönig: Der Hass gegen Juden hat sich von der mittelalterlichen Gesellschaft in die Moderne am Anfang des 19. Jahrhunderts transformiert. Die Gesellschaft in den deutschen Staaten sahen sich plötzlich mit den aus England kommenden Waren konfrontiert, die dauernd billiger werden konnten, weil sie maschinell-industriell gefertigt wurden. Juden vermittelten viele dieser Waren, die über Hamburg auf den Kontinent kamen, weil sie von zünftiger Produktion ausgeschlossen waren. Juden gehörten zu denjenigen, die die neuen Waren der kapitalistischen Produktionsweise in die alte Gesellschaft brachten und sie unter Druck setzten.
Weil sie gar keine andere Wahl hatten.
Ja, das waren die wenigen Erwerbsmöglichkeiten, die ihnen offen standen. Natürlich haben sie diese Möglichkeit wahrgenommen und es darin zu einem gewissen Geschick gebracht. Das war den Zünften, die die Beschränkungen 1819 erneut durchgesetzt hatten, auch wieder nicht recht. Für die meisten war es unerklärlich, wie die englischen Industriewaren ununterbrochen billiger werden konnten. Deshalb haben sie die Juden für die Schuldigen erklärt, die diese Waren heranschafften und ihre ständische Zukunft zu zerstören drohten.
Sie gehen auch auf Karl Marx ein, welche Rolle spielt seine Theorie?
Marx schrieb 1843/44: Erst eine Gesellschaft, die das Profitmotiv nicht mehr als Treibendes für die Produktion hat, wird die Eigenschaften, die den Juden zugeschrieben werden, beseitigen. Es ist ja ein soziales Motiv: Ich habe keine Arbeit mehr, weil die anderen billiger produzieren. Darauf folgte nicht die Antwort, die Marx vorschlug: „Lass uns die Produktionsmittelbesitzer enteignen“, sondern: „Lass uns gegen die Juden vorgehen“.
Ist der Kampf gegen Kapitalismus immer auch ein Kampf gegen Antisemitismus?
Nein, umgekehrt. Die Zünfte nahmen den Antisemitismus wieder auf, weil sie mit dem Kapitalismus nicht fertig wurden. Die Analyse von Marx sagt, dass nicht der Kapitalismus per se schlecht ist, sondern dass es eine zukunftsfähige, die Produktionsmittel weiterentwickelnde Wirtschaftsweise ist, die aber Organisation und gesellschaftliche Steuerung braucht, damit alle davon etwas haben.
Welche Parallelen gibt es zwischen historischem und aktuellem Antisemitismus?
Das Motiv, jemanden für die eigenen ökonomischen Schwierigkeiten verantwortlich zu machen, knüpft an alte Bilder an. Der in die Welt gesetzte Antisemitismus funktioniert dann aber selbstständig weiter. In neuen Konflikten mit neuen Akteuren radikalisiert sich das unter Verwendung alter Motive aus dem kirchlichen Judenhass.
Stadtspaziergang „Heine, Marx und der Kampf gegen den Antisemitismus in Hamburg“: 18 Uhr, 5€, Anmeldung unter https://t1p.de/uuaa
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen