: Jagd auf den Präzeptor
Alt ist, dass Lance Armstrong wieder einmal die besten Aussichten auf den Tour-Sieg hat. Neu ist indes, dass sich eine Schar von ernst zu nehmenden Herausforderern formiert hat – neben Jan Ullrich
Das Profil der ersten Alpenetappe kommt Jan Ullrich entgegen. Das Ziel liegt auf 2.004 Meter Meereshöhe. Es geht steil hinauf. Stürze sind bei Klettertouren selten – sieht man einmal von der Beutel-Attacke eines Zuschauers auf Lance Armstrong im Jahre 2003 ab sowie dem legendären Auffahrunfall zwischen Giuseppe Guerini und einem Hobbyfotografen, der den Italiener seinerzeit aufgabelte. Das Feld kurbelt am Dienstag also hinauf nach Courchevel, wo vor fünf Jahren ein kleiner Mann mit großen Ohren, der unter tragischen Umständen verschiedene Marco Pantani, einen Etappensieg feierte; lang ist’s her.
Jan Ullrich ist es, der bei der Tour 2005 als Bruchpilot firmiert. Er trägt das virtuelle Trikot des draufgängerischsten Hasardeurs in der Sonderkategorie „wider Willen“. Erst durchbricht er mit dem bloßen Kopf die Heckscheibe des Mannschaftswagens und zieht sich anschließend die Splitter nur Millimeter neben der Schlagader aus dem Hals. Dann lässt er sich auf der neunten Etappe der Frankreich-Rundfahrt von einer Windbö erfassen, überschlägt sich nach eigenen Angaben mehrmals und steigt wieder aufs Rad, als sei das eine seiner leichtesten Übungen. „Ich scheine für die spektakulären Sachen zuständig zu sein“, juxte Ullrich, der mit Abschürfungen am Bein und Prellungen davonkam; Befürchtungen der Teamleitung, eine Rippe sei angeknackst, zerschlugen sich nach einer Röntgenuntersuchung.
Dass der radelnde Stuntman immer noch den Präzeptor des Pelotons, Lance Armstrong, herausfordern kann, zählt zu den wundersamen Dingen der diesjährigen Schleife. Weniger überraschend ist, dass sich der Amerikaner mit dem ungestillten Siegeshunger einer gewachsenen Schar von Prätendenten erwehren muss. Zwei Teams tun sich besonders hervor. Die altbekannten Rivalen im Trikot von T-Mobile agieren in einer unverbindlichen Allianz mit den Fahrern vom Team CSC. Armstrong kann sich nicht mehr auf Ullrich allein konzentrieren, das wäre fatal für seine Ambitionen, die Tour zum siebten Mal zu gewinnen. Das Soziusprinzip – Armstrong vorn und am Hinterrad Ullrich oder umgekehrt –, das die beiden bei den bisherigen Etappen verfolgten, wird bei den künftigen Abschnitten im Hochgebirge nur dann Bestand haben, wenn der Amerikaner nicht auf eine Demonstration seiner Stärke Wert legt. Aber wer glaubt ernsthaft, dass dieser vom Ehrgeiz zerfressene Sekundenräuber nicht eine Attacke plant, dass er sich mit einer passiven Rolle begnügt?
Bisher hat Armstrong alle Bewährungsproben der Tour ausgezeichnet bestanden. All jenen, die eine Schwäche des sechsmaligen Toursiegers herbeireden, sei ein Studium der Fakten empfohlen: Beim Prolog knüpft Armstrong der versammelten Konkurrenz mal eben eine Minute ab, auf nur 19 Kilometern; David Zabriskie, der mit dem Texaner hat mithalten können, befindet sich nach einem üblen Sturz nicht mehr im Feld. Beim Teamzeitfahren siegt Armstrongs Discovery-Channel-Team. Und nun steht das dritte ernsthafte Kräftemessen bevor. Warum sollte Armstrong nicht wieder die Muskeln spielen lassen, warum den lauernden Profis, allen voran Ivan Basso, Carlos Sastre, Alexander Winokurow, Jan Ullrich und Andreas Klöden, nicht das Hinterrad zeigen? Eine spektakuläre Flucht wäre ganz nach dem Geschmack Armstrongs, der nach dem taktischen Patzer seines Teams am Col de la Schlucht wohl so manchem Konkurrenten den Glauben eingeimpft hat, sein Team sei verletzbar.
Die Wahrheit liegt aber wieder einmal am Berg, nur dort. Auf diesem Terrain verlassen die Fahrer das Reich der Spekulationen. Hier werden Gerüchte dementiert und Orakelsprüche verifiziert. Oder wie der Träger des gelben Trikots, Jens Voigt, sagt: „Heute beginnt das große Spiel. Bei einer Bergankunft wie dieser brauchst du keine Mannschaft und keine Taktik mehr, und auch Windschatten spielt eine untergeordnete Rolle. Nur du selbst zählst und deine Stärke. Das sind die Momente, wo der Radsport so herrlich einfach ist.“
Im Ziel in Courchevel hofft Jan Ullrich auf einen Sturz. Er hätte nichts gegen Armstrongs Abgang vom Thron der Tour. MV