: Die Anarchie der Identität
Zehn Jahre nach den Massakern regieren in Srebrenica noch immer Verwüstung, Armut und Depression – doch Literatur und Menschlichkeit rappeln sich zwischen den Orten und Gegensätzen mühsam wieder auf. Eindrücke von einem Symposium im Münchner Literaturhaus mit Autoren aus Ex-Jugoslawien
VON SABINE LEUCHT
Es kann in diesen Tagen, wo die geschätzten 8.140 Toten von Srebrenica seit nunmehr zehn Jahren in ihren Massengräbern liegen, nicht mehr als ein Zeichen sein, wenn sich elf Autoren aus dem Balkan im fernen München in ihrem Namen versammeln. In dem einst florierenden ostbosnischen Städtchen, wo noch heute Verwüstung, Armut und Depression regieren, halten muslimische Frauen Kissen in den Armen, in welche die Namen ihrer vermissten Väter, Männer, Brüder und Söhne gestickt sind. Hier in München sitzen Slowenen, Serben, Bosniaken, Kroaten, Kosovo-Albaner, die von Berufs wegen wenigstens das Wort beherrschen, und stemmen zaghaft ihr Handwerkszeug gegen die Flut der Tränen und des Blutes.
„Weiter leben, weiter schreiben“, wie das Symposium im Literaturhaus München übertitelt war, scheint auf banale Weise eins zu sein. Nicht alle Überlebenden schreiben. Doch wer schreiben kann, lebt zumindest noch – und kann in die Sprache emigrieren. Aber worüber wird geschrieben? Und in welcher Sprache?
Bora Ćosić, geboren 1932 in Zagreb und damit der Älteste auf dem Podium, resümiert in einem Gedicht über „die letzte Kinovorstellung“ von Srebrenica: „Es muss ein ganzes Jahrhundert vergehen, ehe ein Rezensent dieser Geschichte eine Kritik schreibt.“ Das Massaker selbst, wenn auch nicht die Beiklänge des Versagens (der UNO, der Menschlichkeit, des Haager Tribunals) bleibt vorerst von Metaphern verstellt, unantastbar, weil zu groß für alle Worte. (Und leider fehlt auch nach der weltweiten Ausstrahlung des „Skorpion“-Videos, auf dem eine serbische Spezialeinheit sechs Jungen hinrichtet, noch die Anerkenntnis der Schuld.)
Wo die Hauptverantwortlichen für den Genozid noch frei herumlaufen, kann die Literatur keine klaren Verhältnisse schaffen. Zwar mag man, wie der jederzeit scharfsinnige Nenad Popović, über das Danach und Davor sprechen, über das heutige Leben „in historischen Katakomben“ und eine „Entzivilisierung des Milieus“ seit 1987. Man kann auch, wie der bei Stuttgart lebende Beqë Cufaj, die (Todes-)Urteile gegen Bormann, Dönitz, Ribbentrop und Co. mit Hölderlin-Zitaten zu einer eindrücklichen Collage rahmen, aber es bleiben doch geliehene Worte. Vielsagend immerhin ist ihre Quelle.
Die Tito-Enkelin Svetlana Broz, die als Paradebeispiel des einstigen Vielvölkerstaates sechs Ethnien („vom Atlantik bis zum Ural“) in sich vereint und anrührende Zeugnisse der Hilfsbereitschaft zwischen den Fronten gesammelt hat, nennt die Verantwortlichen 1995 wie die Regierenden heute „Nationalsozialisten“. Dafür erntet sie zwar sanften Widerspruch, aber keine besseren Vorschläge. Die alten Begriffe sind eindeutig konnotiert, neue aber nicht in Sicht. So scheint vorerst der der Beschreibung der Tragödie auf dem Balkan am nächsten zu kommen, der am deutlichsten auf Abstand davon geht: Dževad Karahasan ist ein Autor, der Leser und Zuhörer mit mildem Lächeln und rhetorisch gespitztem Intellekt unbeschadet vom schlichtesten Gegenstand ausgehend durch linguistische Haarnadelkurven hindurch in metaphysische Untiefen tragen kann. In München las er einen kurzen Abschnitt aus seinem Roman „Schahrijars Ring“ über „das moderne Mobiliar“ aus Glas und Metall, das „vor Gleichgültigkeit glänzt“, und über das Wesen der Spanplatte, die Vergangenheit zu nivellieren: „Alles ist Späne“, sagt die Spanplatte. Während Leben doch Zulassen von Unterschieden ist, von Berührungen, von Geschichte. Und Poesie, so Karahasan, „das Feiern der Nuancen“.
1953 in Duvno geboren und so nach eigener Aussage dort, wo heute das „und“ zwischen Bosnien und Herzegowina verortet ist, ist er nicht nur einer der bekanntesten Autoren und Theaterregisseure der Region, sondern auch unendlich achtsam gegenüber der Sprache. Vor Titos Tod, so Karahasan, habe es im ehemaligen Jugoslawien nur noch ein einziges Verb gegeben: „durchführen“. Selbst Haare durften nicht mehr „gewaschen“ werden, das Haarewaschen wurde „durchgeführt“. („Alles aus Angst vor dem Unterschied.“) Unter Tudjman, ergänzt Nenad Popović, seien in Kroatien die „Arbeiter“ aus dem Vokabular verschwunden und wurden durch „Tätige“ ersetzt. Drago Jančar, geboren 1948 in Maribor, Slowenien, erinnert sich noch gut an die Parolen der Einheit und Brüderlichkeit – ausgegeben, um nationale, ethnische und individuelle Unterschiede zu übertünchen.
„Der“ Jugoslawe, Mensch oder auch Serbe im Allgemeinen, wie ihn der leider nicht ganz zu umgehende Peter Handke zu einem literarischen Abziehbild verarbeitet hat, scheint Baldrian zu sein für die herrschenden Gemüter. Kein Wunder darum, dass einer wie der in Serbien lebende Ungar László Végel eine wachsende „Anarchie der Identität“ begrüßt und den Zuwachs an „Kentauren“ in Europa. Als „heimatloser Lokalpatriot“, sagt er, habe er „keine Sehnsucht, in einem wirklichen Land zu sein“. Der junge Saša Stanišić, der mit seiner verspielten Prosa eben in Klagenfurt den Publikumspreis gewonnen hat, ist 14-jährig aus Serbien nach Deutschland geflohen und bezeichnet sich als „Sprach-Angekommenen“ und „Doppelpunktnomaden“. Vladimir Arsenijević, ehedem Reiseleiter und Koch, ist heute ein ernster und sympathischer 40-jähriger Belgrader, der seiner Heimat als „Cloaca Maxima“ ein Buch gewidmet hat. Ein Dagebliebener, der all seinen emigrierten Freunden zuruft: „Kommt nicht zurück. Ihr seid doch nicht verrückt.“
In der Unruhe zwischen den Orten, in der Feier der Gegensätze liegt die Hoffnung für den Vielvölkerstaat, der einmal Jugoslawien hieß. Auf Arsenijević’ schwarzem T-Shirt, das er am ersten Abend in München trug, prangte das große A für Anarchie neben dem Peace-Symbol. Neben der Trauer, der Wut und der Scham ist dies ein kleines Zeichen von den Wortmächtigen von heute an die Toten von Srebrenica. Nicht mehr, nicht weniger können sie leisten.