: Die Widersprüche der Großstadt vertonen
Der Jazzmusiker Erik Leuthäuser hält nichts von Genregrenzen. Auf seinem neuen Album singt er Songs von Kent Carlson
Von Fabian Schroer
Erik Leuthäusers eigenwilliger Tenor schwebt körperlos über dem langsamen Blues des Pianos und trägt einen zu New Yorks verrauchten Cabarets des letzten Jahrhunderts. Auf den Berliner Showbühnen von heute fühlt sich der gerade 25-Jährige aber auch wohl, zuletzt bei seinem Programm in der Bar jeder Vernunft in Wilmersdorf. Für sein neues Album „In the Land of Kent Carlson“ hat er sich explizit gegen Jazzstandards entschieden. Die Platte gehört trotzdem zu seinen unaufgeregteren Projekten.
Bis jetzt war Leuthäusers Laufbahn eher nicht geprägt von Standardisierung – weder bei seiner Songauswahl noch bei der Art der Besetzung seiner Live-Bands. Der Absolvent des Jazz-Instituts Berlin, an dem er Gesang und Komposition studierte, tritt gerne solo auf, nur mit Stimme und Loopstation, improvisiert oder singt Eigenkompositionen. Das scheint jedoch nicht in Stein gemeißelt. Leuthäuser war auch bereits Teil des Bundesjazzorchesters, Backgroundsänger für Quincy Jones und George Benson und gewann in den letzten Jahren einen Jazzpreis nach dem anderen. Der Tagesspiegel handelt den Vokalakrobaten bereits als den „Erneuerer des Jazzgesangs“. Steile Karriere also.
Tatsächlich hält der Sohn eines Gitarristen nichts von Genregrenzen. Er singt viel auf Deutsch, verbindet Modern Jazz mit Chanson, Indiepop mit Klassik und elektronischer Musik. So experimentiert er live und auf Aufnahmen mit Lautmalerei, phrasiert über seinen geloopten Backgroundgesang, mal melodiös, mal rhythmisch. Mit seiner ehemaligen Kommilitonin Natalie Greffel spielte er 2019 im Rahmen des Projekts Music4Darkrooms – experimentelle Musik beeinflusst von den Fetisch- und Sexpartys der Hauptstadt.
Diese ist seit mehr als fünf Jahren Leuthäusers Wahlheimat und Inspirationsquelle. Die Stadt an der Spree dient ihm als Freiraum, als Kulisse seiner Videos und wird besungen auf seinem 2018 komplett in deutscher Sprache erschienen Album „Wünschen“. Leuthäuser vertont darauf die großstädtische Widersprüchlichkeit, durchmischt eine Vielzahl sowohl textlicher als auch musikalischer Einflüsse. Damit verglichen wirkt sein neuestes Album auf den ersten Blick geradezu formtreu.
„In the Land of Kent Carlson: Live at A-Trane Berlin“ erschien am 18. Juni auf dem Jazzlabel Mons Records, wie zuvor bereits Leuthäusers 2015er Debüt und sein letztes Album „In the Land of Irene Kral and Alan Broadbent“. Abermals begleitet von Pianist Wolfgang Köhler singt er diesmal Songs aus der Feder des kalifornischen Komponisten Kent Carlson. Diese sind stark beeinflusst vom Great American Songbook. Langsame, emotionale Balladen wie „Who Chooses Love?“ wechseln sich ab mit beschwingten Musical Nummern wie „What the Banks Don’t Know“. Große Gefühle also, gepaart mit kabarettistischem Witz. „When I was little I was sure I was a Princess / I had the Things my heart desired / A pair of Tapshoes and a Clarinet were my riches / No Zürich Bank Account required“, heißt es in Letzterem.
Kent Carlson, der ebenfalls seit einiger Zeit in Berlin lebt, hat die Songs gemeinsam mit Leuthäuser ausgewählt. Wie dieser fühlt auch Carlson sich der queeren Community zugehörig und trat unter anderem als „Helen De Nore“ in der Berliner Drag-Szene in Erscheinung. Queere Identität verarbeitet auch er thematisch in seiner Musik. Leuthäuser drückte im Rahmen der Albenveröffentlichung seine Freude über Gemeinsamkeiten aus, die in der eher konservativen Jazzszene eine Seltenheit darstellen.
Wenn Presse oder Kolleg:innen sich mal wieder mehr auf sein, ihrer Meinung nach, unkonventionelles Bühnenoutfit konzentrieren als auf seine Musik, geht der junge Sänger damit offensiv und selbstbewusst um. Am vergangenen Samstag feierte Leuthäuser seinen 25. Geburtstag. Wir wünschen alles Gute nachträglich.
Erik Leuthäuser: „In the Land of Kent Carlson“ (Mons Records/NRW)
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen