Demokratie zum Mitmachen: Das große Gesellschaftsspiel

Eine Ausstellung im Bürgerzentrum Bremen-Vahr erinnert daran, worauf es ankommt bei der Demokratie: Sich selbst zu erkennen und einzubringen.

Im Spiegel sind BesucherInnen der Demokratie-Ausstellung zu sehen, die vor einer wie ein Glücksrad gestatleten Scheibe stehen, dem Mutrad, das die Nutzer auffordert, bestimmte Aufgaben zu erfüllen, etwa einem Fremden eine Frage zu stellen.

Blick in die Ausstellung: Selber am Rad drehen können ist Demokratie Foto: Michael Bahlo

BREMEN taz | Sensationell. Das, was da gerade wächst, oder genau genommen nicht wächst, sondern schweißtreibend aufgebaut wird, um am Donnerstag im Bürgerzentrum Vahr eröffnet zu werden, ist zweifellos die Ausstellung des Jahres in Bremen. Und nein, dass die Stadt derzeit mit einem dufte musealen Kooperationsprojekt bespielt wird, haben wir nicht vergessen. Alles achtbar, ja, ja, große Kunst, toll, toll.

Aber die 350 Quadratmeter von „Step by Step – Demokratie­träume“ sprengen tatsächlich den Rahmen von dem, was du gemeinhin als Ausstellung verstehst: Was hier entwickelt wurde, lässt sich eher als ein Labor oder ein transportables Science-­Center beschreiben.

Wobei Demokratie, um die es hier geht, selbstredend weder Kunstwerk noch Wissenschaft ist, sondern ein ewiger Prozess, an dem möglichst alle teilnehmen. Und so können die aus Pressspanplatten gearbeiteten Bestandteile der Ausstellung zwar architektonisch korrekt als Aufsteller bezeichnet werden.

In Wirklichkeit jedoch handelt es sich um komplexe Lern- und Interaktions-Stationen, die zusammen ein großes Gesellschaftsspiel ergeben. Mit filigran in die Fläche getischlerten memoryartigen Kipp-Elementen, mit eingelassenen Touchscreens, mit Täfelchen, die dank Sublimationsdruck nur nach Handauflegen lesbar werden.

Ein Fenster zur weiten Welt der Diskriminierung

„Demokratie – step by step“: Eindrücke von der Eröffnung der Ausstellung mit einem Integrationsworkshop unter Leitung der Ausstellungs-lots:innen, im Bürgerzentrum Vahr, Berliner Freiheit 10 gibt es auf youtube.

Die Ausstellung ist coronabedingt nur eingeschränkt zugänglich. Sie ist nach den Sommerferien zunächst vom 13. bis 17.9. in der Oberschule Kurt-Schumacher-Allee, dann vom 3 bis 14. Oktober in der VHS, Bamberger Haus nach Anmeldung unter: step-by-step-kyra.pohlan@bzvahr.de zu besuchen. Weitere Infos und Buchunsanfragen bitte an kontakt-step-by-step@bzvahr.de oder übers Kontaktformular auf der Website.

Oder auch mit aufklappbarem Fenster, ganz im Wortsinn ein Fenster zur Welt, wie Saher Khanaqa-Kükelhahn jetzt gleich beweisen wird, sobald sie das Klebeband abgeknibbelt hat, das zur Transportsicherung die Flügel verschließt.

Et voilà. Jetzt kann sie die gemalte Zeitung aufschlagen, deren Headlines alle von freier Liebe und von Zärtlichkeit handeln. Dadurch verwandelt sie sich in eine Weltkarte: Farben indizieren, wo das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ausgeprägt und wo es gefährdet ist.

Textkästen, auf jedem bewohnten Kontinent einer oder zwei, schildern besonders markante Beispiele: Todesstrafe für Homosexualität dort, maskulinistisches Scheidungsrecht dort. Das verschärfte Abtreibungsverbot von Polen hat Eingang in die Übersicht gefunden. Starker Schutz für queere und trans* Personen, dafür musst du wohl nach Skandinavien schauen.

Saher Khanaqa-Kükelhahn prüft in der Zwischenzeit kritisch den Zustand des Exponats, völlig aus dem Häuschen vor Begeisterung und doch zugleich akribisch, fast schon überkritisch, was die Gesellschaft für Gestaltung da hingebungsvoll und technisch perfekt gefräst, gemalt und bedruckt hat und jetzt anliefert.

Und au weia!, da entdeckt sie doch wirklich einen Fleck! „Das ist doch ärgerlich“, sagt sie, schaut noch einmal streng nach links unten, aber dann Erleichterung: Der Fleck hat seine geografische Berechtigung. Es handelt sich um die Galapagos-Inseln.

Khanaqa-Kükelhahn ist Psychologin, darin hat sie ein Diplom, aber richtiger wäre die Berufsbezeichnung Integrations- oder Inklusionsarbeiterin. Seit Jahrzehnten macht sie Projekte mit Menschen, die neu angekommen sind in Bremen: Sie koordiniert „Face to Face“, das „Beschäftigungsprogramm für Migran­t*in­nen und Geflüchtete ab 18 Jahren“ in der Vahr, mit Tanz-, Näh- und klassischen Sprachkursen.

Daraus hervorgegangen ist ein Upcycling-Atelier mit neuerdings eigenem Shop im Einkaufszentrum Berliner Freiheit. Und seit 2009 hat sie auch das Theaterensemble „Next Generation“ unter ihren Fittichen, mit Jugendlichen von überall her und mit ganz unterschiedlichen Sprachen.

Ihr jetziges Team, sagt sie, „die waren alle vor ein paar Jahren in Kursen bei uns“, frisch im kalten Deutschland gestrandet, „jetzt sind sie Mitarbeiter“. Mitarbeitende im Step-by-Step-Projekt, das sechs Module umfasst, vom Familienworkshop zur Demokratie­lots*innenausbildung. Die Ausstellung ist nur eines davon, wenn auch ein besonders glanzvolles.

Mit dem Team hat sie das Konzept und jedes Element der Ausstellung erarbeitet, jeden i-Tüpfel eines jeden Objekts, in Videokonferenzen, in ausufernden Chats und ewigen Mailwechseln. „Manchmal ging ein Bild fünfmal hin und her“, sagt sie, „dann habe ich am Ende einfach entschieden“.

Speziell aber ist, dass der Ansatz von Menschen entwickelt wurde, „die nicht hier in dieser Demokratie aufgewachsen sind“, Menschen mit Kriegs- und Diktaturerfahrungen: wie sie selbst. Mehrere von ihnen führen durch die Ausstellung als eigens ausgebildete Demokratie-Lots*innen. Sie sind im Wortsinn Demokratie-Expert*innen.

Mit trotziger Sicherheit

Khanaqa-Kükelhahn ist in den Kurden-Gebieten des Irak aufgewachsen, als dort noch Saddam Hussein herrschte. Als sie hierherkam sei sie ohne Rücksicht auf Verluste in die Schule gesteckt worden, ohne Deutschkurs, ohne Orientierungshilfen. Programme wie die, in denen sie jetzt arbeitet: Fehlanzeige.

Die fast trotzige Sicherheit, Teil dieser Gesellschaft zu sein, hat das nicht beeinträchtigt. „Meine deutschen Freunde“, sagt sie, „fragen mich oft, warum ich mich so einsetze, warum ich nicht still und zufrieden in meiner Praxis bleibe“, aber dieser Impuls, mitzumachen, sei ja genau das Entscheidende: „Wir alle zusammen sind die Gesellschaft. Wir haben alle die gleiche Verantwortung für die Demokratie“, sagt sie mit Verve. „Und natürlich regt es mich wie jeden anderen auf, wenn es mehr rechtsradikale Schläger gibt, oder wenn die islamistischen Extremisten stärker werden.“

Die Idee der Schau, die später nach Hannover, nach Kiel, nach München, Berlin, in fast jede größere deutsche Stadt touren wird, ist letztlich, diesen Impuls, der Demokratie leben lässt, zu wecken und weiterzutragen. „Wir wollen doppelt so ansteckend sein wie eine Delta-Variante“, sagt Khanaqa-Kükelhahn.

Also verzichtet sie darauf, über die Geschichte der Staatsform oder das machtmechanische Zusammenspiel der Verfassungsorgane zu belehren. Stattdessen organisiert die Ausstellung Begegnungen: Am Ende wird man – das ist die äußere Demokratie, da erprobt sie sich und ihre impliziten Werte als Herrschaftsform – mit anderen Be­su­che­r*in­nen an einem Tisch sitzen und soll eine Koalition schmieden: Kompromisse finden, gemeinsame Ziele erkennen, anhand der aktuellen, aber anonymisierten Wahlprogramme.

Ganz am Anfang aber treffen ihre Be­su­che­r*in­nen auf sich selbst, im Spiegel. „Das ist das wichtigste“, darauf besteht Khanaqa-Kükelhahn, „alles muss vom Ich ausgehen“. Denn „für die Gesellschaft etwas zu tun“ sei nur in der Lage, wer sich widerspiegele, sich einschätze, den Blick der Anderen auf sich selbst erprobe: Das wäre dann die innere Wahrheit des Systems. Hier lässt sich erlernen, wie lustvoll es ist, daran teilzuhaben.

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