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Archiv-Artikel

Der Rathaus-Punk von Reykjavík

Anfang der Woche haben die Stuttgarter Meisterbürger Reykjavíks Oberbürgermeister Jón Gnarr zum Gespräch nach Stuttgart eingeladen. Der Komiker, Schauspieler und Politpunk hat sich in seiner Heimatstadt zur Wahl aufstellen lassen, weil er den etablierten Parteien in den Hintern treten wollte. Kontext sprach mit ihm über Ideen, Ziele und seinen Traum

Hermann G. Abmayr (Interview) und Martin Storz (Fotos)

Herr Gnarr, sehen Sie Parallelen in der Entwicklung Islands und Deutschlands?

Island war das erste Land, das wirtschaftlich kollabierte. Dann kamen Irland, Griechenland und die anderen. Wie bei einer Laufmasche. Und so wird die Krise auch Deutschland als stärkstes Glied der Kette treffen. Die Deutschen, so mein Eindruck, haben stärker als andere über das Problem und über Lösungen nachgedacht. Immer mehr Menschen begreifen, dass wir die Strukturen ändern müssen, die politischen, die wirtschaftlichen, aber auch unser Schulsystem, mit dem wir unseren Kindern die falschen Inhalte beibringen. Darin sehe ich große Parallelen. Das Vertrauen in die traditionellen politischen Parteien ist in ganz Europa zusammengebrochen. Das Wichtigste ist, dass wir jetzt eine positive Alternative schaffen. Denn sonst drohen Entwicklungen wie in Frankreich oder Finnland, wo rechtsextreme Parteien stark zugelegt haben.

Auch Bewegungen wie Occupy Wall Street fordern das. Wie können Alternativen aussehen?

Ich habe selbst an der Wall Street demonstriert. Ich verfolge die Bewegung mit großem Interesse. Das gilt auch für die Anonymous-Aktivisten. Für die Entwicklung der Demokratie generell. Ich beobachte deshalb auch, was in Deutschland passiert. Zum Beispiel die Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 oder das Erstarken der Piratenpartei. Ich bin überzeugt, dass der Kapitalismus die stärkste Bedrohung für die Demokratie ist und der Anarchismus die realistischste Methode, um ihn zu bekämpfen.

Was heißt Anarchismus für Sie?

Wir nennen uns Anarchosurrealisten. Keiner weiß, was das ist. Ich auch nicht. Aber man kann uns damit nicht in eine Schublade stecken. Jedenfalls sind alle Anarchisten Sozialisten, aber nicht alle Sozialisten sind Anarchisten. Anarchismus wurde in der Vergangenheit sehr eng definiert. Dabei gibt es viele unterschiedliche Richtungen bis hin zum christlichen Anarchismus. Denken Sie an den russischen Schriftsteller Leo Tolstoi. Klar ist aber auch, dass wir jede Form von Gewalt ablehnen.

Und wie viel Anarchismus ist ins Rathaus von Reykjavík eingezogen?

Sehr wenig. Ich bin viel dafür kritisiert worden, das Amt des Bürgermeisters in seiner Bedeutung zu demontieren, nicht mit Macht umgehen zu können. Denn ich verteile die Macht. Mein Ziel ist es, mich selbst abzuschaffen. Ich will nicht, dass die Menschen an mich glauben, sondern dass sie an sich glauben. Die Zeit der Helden ist vorbei. Wir brauchen Menschen, die bereit sind, sich zu engagieren. Mein Traumpräsident wäre übrigens eine Person mit Downsyndrom. Das meine ich ganz ernst. Ich glaube, dieses Amt wird extrem überbewertet, vielleicht weil wir keinen König haben.

Was heißt Bürgerbeteiligung für Sie?

Wir haben damit begonnen, mehr Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie einzuführen. Das Projekt heißt „besseres Reykjavík“. Die Bürger können sich in einem strukturierten Prozess zu allen Themen äußern. Wir haben dafür eine eigene Internet-Plattform. Der Stadtrat muss sich dann mit den Vorschlägen befassen, wenn eine bestimmte Zahl von Bürgern das wünscht. Unser Ziel ist es, dass die Bürger auch über die Verteilung der Haushaltsmittel entscheiden. Auf der Ebene der Stadtteile, die ein eigenes Budget haben, gibt es diese Möglichkeit schon.

Das klingt gut. Doch zu Ihren ersten Amtshandlungen gehörten Stellenstreichungen, sogar bei den Schulen.

Wir hatten ein schweres Erbe übernommen. So waren die Stadtwerke fast pleite. Wir mussten zehn Prozent der städtischen Ausgaben einsparen. Statt Schulen zu schließen, haben wir sie dann zusammengelegt und beim Leitungspersonal Stellen gestrichen. Das war sehr schwer, deprimierend sogar. Trotzdem: Wir glauben im Gegensatz zu den Neoliberalen an die Bedeutung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Doch leider fehlt es immer noch an Respekt für diese Menschen.

Hatten Sie damals nicht daran gedacht, Steuern oder Abgaben zu erhöhen?

Natürlich haben wir die erhöht. Wir haben die gesetzlichen Obergrenzen ausgeschöpft. Und wir haben darüber nachgedacht, öffentliche Gebühren – zum Beispiel für Kindergärten – einkommensabhängig zu erheben. Leider ist der Rahmen, den uns die Gesetze dazu geben, sehr eng. Zudem wäre es ein sehr großer Aufwand gewesen.

Was hat sich seit Ihrer Amtsübernahme vor zwei Jahren noch verändert?

Wenn ich von einem Thema keine Ahnung habe, gebe ich dies als erster Bürgermeister der Stadt öffentlich zu.

Und welche Wahlversprechungen haben Sie bereits erfüllt? In Ihrem Wahlspot sagten Sie, Sie wollten Gratishandtücher an allen heißen Quellen einführen, Sie haben einen Eisbären für den Zoo versprochen oder einen „Guten-Tag-Tag“, an dem sich alle Menschen freundlich grüßen.

Meine Wahlversprechen waren allesamt Quatsch und doch kein Quatsch. Ich habe auch versprochen, Disneyland in den Stadtteil Vatnsmyri zu holen. Statt Disneyland haben wir dort jetzt ein Vogelschutzgebiet geschaffen. Es ist wohl das einzige in einer Großstadt. Die Leute dachten, Disneyland sei für sie da. Doch jetzt sind Vögel, Enten und die Mäuse da: Donald Duck und Mickymaus fühlen sich wohl. Das ist Anarchosurrealismus.

Hatten Sie Angst, dass Sie durch die Politik verbogen werden könnten?

Das, was die Seele auffrisst, sind Wut, Gewalt oder aggressives Verhalten. Darauf antworte ich mit Humor, Fairness und Höflichkeit. So hat mich im Stadtrat neulich ein Vertreter der konservativen Partei massiv kritisiert und ist dann ausfällig geworden. Ich hätte ihm antworten können: „Sie sind selbst ein Idiot.“ Doch ich bin ans Pult gegangen und habe gesagt: „Schade, dass Sie meine Arbeit nicht überzeugt hat. Ich würde mir wünschen, dass Sie mir eine Chance geben. Im Übrigen schätze ich Sie nicht so ein wie Sie mich. Ich finde, Sie haben in der Vergangenheit eine prima Sache gemacht. Deshalb habe ich Respekt vor Ihnen.“ Und damit war er am Ende.

Sie haben sich das Wappen von Reykjavík auf den Oberarm tätowieren lassen. Würden Sie dies auch dem neuen OB in Stuttgart empfehlen?

Ja, warum nicht. Ich wundere mich aber, dass ein Oberbürgermeister bei Ihnen für acht Jahre gewählt wird. Bei uns sind es nur vier. Acht Jahre, das ist eine sehr große Verpflichtung. Unter diesen Bedingungen hätte ich in Reykjavík vermutlich gar nicht kandidiert (lacht laut und herzlich).

Für den Christopher Street Day haben Sie Ihre Lippen mit grellem Rot geschminkt und die Parade in auffallenden Frauenkleidern angeführt. Nur ein Gag der „Besten Partei“. Oder könnten Sie sich Bürgermeister andernorts ähnlich vorstellen?

Unbedingt. Ich habe an der Parade jedes Jahr teilgenommen. Es ist die Pflicht eines jeden Bürgermeisters, eine führende Rolle im Kampf für die Menschenrechte einzunehmen.

Was hat sich für Sie persönlich seit Ihrem Einzug ins Rathaus geändert? Haben Sie Freunde verloren, die enttäuscht sind oder für die Sie keine Zeit mehr haben?

Die Migräne ist schlimmer geworden. Das kommt vom Stress. Und ich bin öfter müde, denn ich bin oft rund um die Uhr Bürgermeister. Aber ich nehme mir auch Zeit für andere Dinge. Meine Frau und mein Sohn haben mich jetzt mit nach Stuttgart begleitet. Und ich arbeite weiter als Autor. In der vergangenen Saison hatte mein Theaterstück „Hotel Volkswagen“ Premiere, nächstes Jahr erscheint mein zweiter autobiografisch gefärbter Roman – auch auf Deutsch. Die Leute aus der „Besten Partei“ sind aktive Künstler und Politiker. Und alle sind nach wie vor künstlerisch aktiv. Einer meiner Freunde zum Beispiel ist Punkrocker und gleichzeitig für unsere Schulen zuständig.

Mit Massenprotesten hatten die Isländer nach dem Zusammenbruch ihrer Banken die Regierung gestürzt. In der Hauptstadt der Vulkaninsel (120.000 Einwohner) hat das Wahlvolk die herrschenden Politiker dann 2010 noch konsequenter abgestraft. Der Anarchist Jón Gnarr ist mit einer Künstlertruppe, der „Besti Flokkurinn“ („Die beste Partei“), mit 35 Prozent ins Rathaus von Reykjavík eingezogen. Jón Gnarr ist ihr Chef und zeigt, dass Oberbürgermeister nicht immer aus der Ecke der etablierten Politik kommen müssen. Er trägt ein Piraten-Tattoo am rechten Oberarm, das Wappen seiner Heimatstadt auf dem anderen. In Stuttgart fühle er sich wohl, sagt der 45-Jährige beim Interview auf der Terrasse des Theaterhaus-Restaurants. „Denn ihr habt ja isländisches Sommerwetter.“